Für Hermanus, in memoriam
Diese Ton-Dia-Show ist in Zusammenarbeit mit Anne Frisius entstanden, in der Sommerakademie 2017 in Bremen beim Seminar von Hermanus Westendorp: Heartbreak Hotel.
Unterkunften
Unterkunft klingt ungemütlich. Kunft. Kunfttun, künftig, kunften, die Kunftung. Ankunft. Einkunft. Auskunft. Niederkunft. Überkunft und Unterkunft. Das ganze Leben brauchen wir eine Unterkunft. Besonders im Urlaub.
Für wenig Geld kann man zum Beispiel in einem Krug unterkommen. Man wird abends mit lauwarmem Wasser bedeckt und morgens durch ein Sieb abgegossen. Der Alltag tropft von einem ab und im Sieb bleibt der touristische Mensch zurück.
In manchen Hotels kann man kostenlos wohnen, wenn man sich dafür bei den Mahlzeiten auf dem Buffet ausstellen lässt. Man muss dafür allerdings ziemlich ruhig sitzen können und morgens Kaffeeparfum benutzen.
Eine ebenfalls kostenlose Unterkunft im wahrsten Sinne des Wortes ist die Unterbringung unter dem Bett eines anderen Gastes. Viele Leute haben Angst davor, dass sich unter ihrem Bett ein Monster befinden könnte, und meistens haben sie so viel Angst davor, dass sie sich nicht trauen, selbst nachzusehen, und deshalb klingeln sie nach dem Zimmerservice .
Manche Hotels bieten nun die Möglichkeit an, sich einen anderen Gast zu mieten, der unter dem Bett schläft und abends oder auch nachts beruhigend murmelt: ” Es ist kein Monster da, nein, keine Sorge, ich passe auf, kein Monster da.“
Reisen ist Risiko. Wenn man zum Beispiel immer an denselben Ort fährt, lässt man jeweils 100 000e Atome zurück, die sich nach ein paar Jahren in den ungewohnten Klimaeinflüssen zu einem Gegenentwurf von einem selbst organisieren können, einem sogenannten Urlaubs-Auch. Am Urlaubsort trifft also das Urlaubs-Ich auf das Urlaubs-Auch, das sich besser auskennt und schon alles erlebt und alles gekostet und sich prima erholt hat, und einem mit seiner Besserwisserei den Urlaub gründlich vermiesen kann.
Außerdem wird das Urlaubs-Auch zunehmend aggressiver und entreißt einem bei weiteren Urlauben Millionen von Atomen, mit denen es sich selbst anreichert. Die entstandenen Körperlücken füllt es mit einer Art Schaumstoff aus, weshalb sich die Menschen dann nach ihrem Urlaub aufgebläht und ausgestopft fühlen.
Es kann allerdings auch gefährlich sein, im Urlaub zu Hause zu bleiben. Während man sich in einem langsameren Modus als die arbeitende oder arbeitssuchende Umgebung befindet, kann man besonders leicht ein Opfer von Gallertmassen aus der Familie der Gelierten werden, die sich gerne an menschlichen Hautschuppen laben.
Sie setzen sich, durchsichtig wabbelnd, zunächst an Bauch und Oberschenkeln fest, von wo aus sie sich über den ganzen Körper verbreiten und dem befallenen Menschen ein Trägheitsgefühl vermitteln, das dieser zunächst dem Urlaubsmodus zuschreibt und für harmlos hält. Bis er merkt, dass er sich kaum noch bewegen kann, und schließlich nicht mehr mithalten kann, mit der Geschwindigkeit der Erdumdrehung. Der gelierte Mensch beginnt zu schweben, die Erde bewegt sich unter ihm weg und er kann nicht mehr Fuß fassen. Sein Zuhause, sein Wohnort, sein Land verlässt ihn, dreht sich einfach weg und verschwindet.
Die Gallertmassen verlassen ihn erst, wenn er abgemagert ist. Dann plumpst er zu Boden, in irgendeinem fremden Land, meist ohne Geld und ohne Ausweis, ein Nichtling.
Er macht sich zu Fuß auf den Weg, um all das wieder zu finden, was er verloren hat. Nur die wenigsten schaffen es, die Heimat wieder zu erreichen, und selbst wenn sie ankommen, wohnt längst jemand anders in ihrem Haus und ihr Arbeitsplatz, an dem sie sich unersetzlich geglaubt hatten, ist nicht mehr frei. Familie und Freunde haben sich anderen Menschen zugewendet und nehmen den Todgeglaubten nur zögernd wieder auf. Und wenn er den Fehler begeht, zu behaupten: “Das kann euch genauso passieren”, dann wenden sie sich peinlich berührt ab und er bleibt allein zurück.