Treppenhaus

Eine Treppe mit lila Geländer liegt quer in der Landschaft

Ich habe ein Trep­pen­haus geerbt. Es steht in der Lin­den­stra­ße*, mit einem schö­nen Haus drum­rum, und ich bekom­me eine Maut­ge­bühr, die pro Stock­werk berech­net wird. Je höher oben jemand wohnt, umso mehr kann ich ver­lan­gen. Nur das Ehe­paar im vier­ten Stock links zahlt nichts. Sie haben einen Out­door-Laden und sei­len sich mor­gens ab und klet­tern abends wie­der hoch. Aller­dings hat ein Cou­sin drit­ten Gra­des, der die Fas­sa­de geerbt hat, sie wegen der Schä­den in der Haus­wand ver­klagt. Das Ehe­paar hat sich dar­auf­hin eine Trans­port-Droh­ne ange­schafft. In den Löchern haben sich Schwal­ben ein­ge­nis­tet und die dür­fen aus Natur­schutz-Grün­den nicht gestört wer­den.
Sol­che Schwie­rig­kei­ten habe ich mit mei­nem Trep­pen­haus nicht. Das ein­zi­ge Pro­blem ist, dass ich vor Ort sein muss, um die Maut­ge­bühr ein­zu­trei­ben. Da ich aber sowie­so nur vor­über­ge­hend in einem Gar­ten­haus woh­ne, zie­he ich eben in die Lin­den­stra­ße* um. Es gibt dort einen Vor­raum mit Mar­mor­bo­den, von der Haus­tür eine Halb­trep­pe run­ter, bei den Brief­käs­ten. Unter die Trep­pe zum Erd­ge­schoss kann ich mei­ne Matrat­ze legen, dort habe ich auch ein biss­chen Pri­vat­sphä­re, weil ich einen Vor­hang davor hän­ge. Gegen­über den Brief­käs­ten stel­le ich zwei Stüh­le und einen Tisch auf, und ich besor­ge mir einen Gas­ko­cher und einen Mini-Kühl­schrank. Was­ser und Toi­let­te gibt es im Kel­ler.
* Zu Ähn­lich­kei­ten mit real exis­tie­ren­den Stra­ßen s. Lin­den­stra­ßen-Camp Proteste

Ich habe die Haus­tü­re mit einer Glo­cke ver­se­hen, und jedes Mal, wenn sie ertönt, gehe ich hin, grü­ße, samm­le die Maut ein, spre­che ein paar Wor­te, aber die Leu­te haben es eilig. Sie sind höf­lich zu mir, fast freund­lich, und dann gehen sie schnell wei­ter.
Im Trep­pen­haus wird nur das nötigs­te gere­det. Die Geräu­sche domi­nie­ren. Schrit­te, die ver­schie­de­nen Schlüs­sel­bun­de, der Sound der Reiß­ver­schlüs­se, der Summ­ton der Klin­geln, die Gegen­sprech­an­la­ge. Manch­mal geht eine Woh­nungs­tür auf, Stim­men schwap­pen ins Trep­pen­haus, Geläch­ter oder Schimp­fen, dann geht die Tür wie­der zu. Alles, was pas­siert, ist nach drei Minu­ten vor­bei. Das Trep­pen­haus ist ein inwen­di­ger Außen­sei­ter. Alle sind in ihren Woh­nun­gen, das Trep­pen­haus bleibt außen vor und ich auch.
Um mich abzu­len­ken, put­ze ich mein Erb­stück jeden Tag. Das warm­nas­se Tuch leckt über jede Stu­fe. Sei­fen­schaum fliegt, setzt sich, knis­tert, pri­ckelt. Der run­de Eimer­fuß geht lang­sam, lässt Rin­ge aus Was­ser zurück. Ich wische Staub­flu­sen auf, Schuh­soh­len-Abrieb, Dreck­klum­pen, Sand, her­ein­ge­wir­bel­te Blät­ter, abge­brö­ckel­ten Putz, Urin­tröpf­chen vom Pudel aus dem zwei­ten Stock, Hun­de­haa­re, Spin­nen­net­ze, Hand­schweiß auf dem Gelän­der­rand.
Auf jedem Absatz ver­wei­le ich ein biss­chen und hof­fe, dass eine Tür auf­geht. Ich seh­ne mich nach Kon­takt und Gesprä­chen. Aber meis­tens geschieht nichts. Nur kah­le Wän­de, Türen, Licht­schal­ter und Klin­gel­knöp­fe. Unter den Tür­schlit­zen wabern Gerü­che ins Trep­pen­haus hin­ein. Fisch, Kohl, Bra­ten, Staub­sauger. Die Leu­te stel­len ihre Schu­he vor die Türe, die Abfall­tü­ten, manch­mal auch kaput­te Sachen: CD Play­er, Stüh­le, alte Blu­men­töp­fe. Auf fünf von acht Tür­mat­ten steht: “Will­kom­men” oder “Wel­co­me”. Ich den­ke mir Anläs­se aus, um zu klin­geln, aber dann las­se ich es. Was da steht, gilt sicher nicht für mich.
Mei­ne Freund*innen besu­chen mich nur ungern im Trep­pen­haus. Sie rut­schen unru­hig auf den Stüh­len hin und her, wenn ich die Maut ein­trei­be, sie zucken zusam­men, wenn wir im Däm­mer­licht plau­dern und plötz­lich das Licht angeht. Wenn jemand sei­ne Schu­he im Trep­pen­haus imprä­gniert, rümp­fen sie die Nase. Sie ver­ab­schie­den sich früh und kom­men nicht wie­der.
Nachts schla­fe ich unru­hig, Spin­nen huschen mir übers Gesicht, mei­ne Träu­me mischen sich mit denen des Trep­pen­hau­ses, ich träu­me von wei­chen Pan­tof­feln, vom Tief­see-Tau­chen, vom Eif­fel­turm.
Ich hän­ge ein Schild an die Haus­tür: Wahr­sa­gen mit Filz­stif­ten. Ich las­se die Leu­te aus fünf­zehn ver­schie­de­nen Far­ben sie­ben Filz­stif­te aus­wäh­len und in die Luft wer­fen und mache ein Foto davon, wie sie zu lie­gen kom­men. Die Filz­stif­te räu­me ich gleich wie­der weg, damit nie­mand von den Hausbewohner*innen sie sieht. Das Foto bespre­che ich aus­führ­lich, die Anord­nung der Filz­stif­te, die Far­ben. Ich bie­te Espres­so an oder Cap­puc­ci­no und erzäh­le. Mir fällt immer viel ein. Die Leu­te sind dank­bar, sie zah­len ger­ne. Trotz­dem mache ich das Schild nach eini­ger Zeit wie­der ab.
Ich schrei­be Gedich­te, auf DIN A 4 Blät­ter, hef­te sie mit Reiß­zwe­cken an die Wän­de. Frau Mei­sel aus dem Erd­ge­schoss macht mich dar­auf auf­merk­sam, dass im Trep­pen­haus nichts Brenn­ba­res hän­gen darf. Brand­schutz­re­geln.
Ich über­le­ge mir, eine Biblio­thek zu eröff­nen. Ich könn­te ein Aqua­ri­um auf­stel­len. Ich möch­te die Wän­de anma­len oder eine Draht­seil­bahn instal­lie­ren. Ich wür­de ger­ne Akrobat*innen dazu ein­la­den, Kunst­stü­cke auf dem Gelän­der vor­zu­füh­ren. Mit einer Repe­ra­tur-Sta­ti­on könn­te ich viel­leicht sogar die Leu­te im Haus dazu brin­gen, sich mit mir zu unter­hal­ten. Aber ich kann nichts repa­rie­ren. Und die Leu­te, die hier woh­nen, wer­fen kaput­te Sachen ein­fach weg.
Ich habe ein Dach über dem Kopf, ich habe ein Ein­kom­men, ich lebe in einem rie­si­gen Nichts.
Ich mache nichts mehr, samm­le auch kei­ne Maut mehr ein. Man­che Leu­te legen mir das Geld auf den Tisch, ande­re nicht. Als ich ein paar Tage so da lie­ge, nicht krank, aber auch nicht gesund, beginnt das Trep­pen­haus, mit mir zu reden.
Die Haus­tür geht auf, das Licht blen­det, Schlüs­sel klap­pern, schlie­ßen, Brief­kas­ten­tü­ren quiet­schen, eine Woh­nungs­tür fällt ins Schloss, und ich packe. Erst fül­le ich mei­nen Ruck­sack, der Rest kommt in den Fahr­rad­an­hän­ger. Dann gehe ich.