Ein sonniger Herbsttag, ich sitze auf einer Bank an der stillgelegten Bahnlinie, zwischen einem knorrigen Holunder und einer Schar Brennesseln, die mich überragen, und schaue in die blaue Luft. Glöckchen klingeln, kommen näher. Sie hängen an einem Rollator, zusammen mit Wimpeln in verschiedenen Farben, Blumenghirlanden und einem leeren roten Einkaufsnetz; im Gitterkorb drei Handtaschen, reingeknautscht. Die Frau, die den Rollator schiebt, trägt einen violetten Strohhut. Als sie näher kommt, sehe ich, dass sie weint. Schnell schaue ich weg, aber sie bleibt vor der Bank stehen, schluchzt. Verlegen ziehe ich eine Packung Taschentücher aus meiner Fahrradtasche, biete ihr eines an. Sie nimmt es, schnaubt hinein und lässt sich neben mich auf die Bank fallen: “Kennst du auch jemanden, der schon tot ist?” Ich zögere. “Ja, mehrere”, sage ich schließlich, und überlege, wie ich aus dieser Situation wieder raus komme.
Die Frau weint weiter, ich mustere sie verstohlen. Auf ihrer Bluse prangen Schmetterlinge, die Hose hat ein Leopardenmuster. Ich stelle fest, dass ich die Klamotten mag, mich aber nicht trauen würde, sie anzuziehen, schon gar nicht in Kombination, obwohl ich Schmetterlinge mag, und Leoparden auch. “Wer ist denn gestorben?”, frage ich.
“Micha.” Die Frau neben mir haut mit der Faust auf die Parkbank: “Warum ist das so? Tod und vorbei. Warum kommt er nicht wieder?” Ich seufze. Jetzt sitze ich hier mit diesen Todesfragen, auf die es keine Antwort gibt. Ich will mich nicht von der Traurigkeit anstecken lassen, aber es ist schon zu spät. So ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Gleich fange ich an zu weinen. Ich will gehen. Aber das kommt mir gemein vor.
Auf einmal sind sie da, stehen vor mir, meine Toten, gestorben durch Krebs, Suizid, Herzinfarkt, Ertrinken. Das Warum? nach jedem Tod. Das Loch in meiner Seele. Der Unsinn des Todes. Das Unvorstellbare, an das man sich letztendlich gewöhnt. Was man vergisst. Jeden Tag vergessen wir unsere Toten. Und plötzlich stehen sie vor mir, an einem sonnigen warmen Tag, herbei gekommen mit einem glöckchenklingelnden Rollator.
“Es war noch nicht fertig.” “Was war noch nicht fertig?” “Er schuldet mir noch einen Schokoriegel, mindestens.” Ich krame in meiner Fahrradtasche, hole den Riegel aus Milchschokolade heraus, den ich seit einiger Zeit immer bei mir trage: “Für dich.” Sie schaut mich an, ihr Mund zieht sich zu einem Lächeln: “Heißt du auch Micha?” “Nein”, ich schüttle abwehrend den Kopf. Als ich ihren enttäuschten Blick sehe, ändere ich meine Meinung: “Du kannst Micha zu mir sagen”, schlage ich vor. “Ja? Triffst du dich auch jeden Freitag mit mir, um drei am Aldi-Flaschenautomaten?” Damit habe ich nicht gerechnet.
Sie streichelt mein Haar. Ihre Hand riecht nach Nivea. Ich weiche ein bisschen zurück. Wer weiß, welche Verpflichtungen noch damit verknüpft sind, Micha zu sein. “Also, ich habe nicht jeden Freitag Zeit”, sage ich vorsichtig. “Fang nicht schon wieder so an, Micha!” Sie rüttelt am Rollator, die Glöckchen klirren. “Du weißt, dass am Samstag Ahmad dran ist und Sonntag Marie-Luise!” “Ach so”, sage ich, erleichtert, dass es noch andere gibt. Sie ist nicht so allein, wie ich es mir vorgestellt habe.
Jetzt weint sie wieder. “Du bist nicht Micha, es ist kein Micha mehr da, gar kein Micha!” Ihre Verzweiflung tut mir weh. Kann ich denn gar nichts machen? “Vielleicht ist er jetzt im Himmel und es geht ihm gut.” Ich deute auf die blaue Substanz über uns. “Quatsch, er ist in der Erde drin, hab ich selbst gesehen. Am Montag um halb zehn haben sie ihn reingelegt. Ich möchte nicht reingelegt werden.” “Ich auch nicht.“
Wir schweigen. Sitzen nebeneinander, einträchtig, traurig. Dann steht sie auf. “Tschüss”, sagt sie. Und geht. Ich schaue ihr nach, gebeugt schiebt sie den Rollator, es klingelt. Ich will ihr noch irgendetwas sagen. Ihr nachlaufen, sie zum Kaffee einladen. Aber ich bleibe sitzen. Und weine.