“Ach, es ist wohl unmöglich”, seufzt die alte Frau, die an der Straßenecke steht, auf ihren Stock gestützt, in einen Staubmantel gehüllt. “Vielleicht nicht”, sage ich und bleibe stehen. “Es gibt immer viel mehr Möglichkeiten, als wir denken.” Ich will damit nicht nur ihr Mut zusprechen, sondern auch mir selbst. Ich bin auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch. Den Job muss ich gar nicht haben. Ich will aber dieses Mal mit einem guten Gefühl aus dem Gespräch raus kommen und nicht so geknickt und beschämt wie die letzten drei Male.
“Meinen Sie?”, murmelt die Frau. Sie ist so gebückt, dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann. “Ich möchte es so gerne. Ich möchte einmal, einmal nur im Zirkus auftreten.” “Oh”, sage ich. Damit habe ich nicht gerechnet. “Ach, aber es ist zu spät.” “Womit möchten Sie denn auftreten?”, frage ich vorsichtig. Es fällt mir schwer, sie mir in der Manège vorzustellen, aber vielleicht kann sie ja zaubern.
“Akrobatik!”, sagt sie. Ich muss lachen. Die Frau hebt den Kopf, schaut mich an. In ihren Augen blitzt etwas, das mich zurückweichen lässt. “Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht …” Sie starrt mich an. “Ich muss jetzt weiter”, stottere ich, “ich wünsche Ihnen viel Glück!” Ich komme mir gemein vor und bin froh, als ich an ihr vorbei bin. Da höre ich hinter mir ihren Stock, ihre Schritte. Ich gehe schneller. Sie auch. Sie kommt näher.
Als ich gerade zu einem Sprint ansetzen will, packt sie mich am Kragen und springt mir auf den Rücken. Krallt sich fest, sodass es mir den Atem nimmt. “Nicht!”, protestiere ich röchelnd. “Jetzt hab ich dich”, krächzt sie in mein Ohr, “und ich wünsche dir viel Glück!“
Ich versuche, sie abzuschütteln, erst vorsichtig, dann heftiger. Es gelingt mir nicht. Sie hat die Arme um meinen Hals geschlungen und ihre Oberschenkel umfassen meine Taille wie eine Greifzange. Ich krieg sie nicht los. “Luft!”, keuche ich. Sie gibt den Hals frei und fordert: “Schneller!” “Wohin möchten Sie denn?” “Na, zum Zirkus!”
“Ich habe ein Vorstellungsgespräch”, sage ich, “und es ist sehr wichtig, dass ich dort auftauche, sonst bekomme ich Schwierigkeiten mit dem Jobcenter.” “Ah, auch ein Zirkus”, sagt sie, “ich komme mit.” “Aber ich kann Sie nicht mitnehmen.” “Warum nicht?” Sie lacht hässlich. “Ich bin dir wohl zu alt?” “Nein, nein, es ist nur … ich muss alleine dort erscheinen.”
“Es gibt immer viel mehr Möglichkeiten, als wir denken”, spottet sie, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als mit der Frau auf dem Rücken weiter zu wanken, zur Firma Bütz.