Bei einem meiner nächtlichen Spaziergänge komme ich durch eine kleine Gasse und bemerke an einer der Haustüren einen handgeschriebenen Zettel: “Dr. Puszka, Zahnarzt. Bitte drei mal klingeln.” Ich drücke auf den Klingelknopf, dann fällt mir die Uhrzeit ein, ich zögere. Über mir geht ein Fenster auf und ein Kopf streckt sich raus, eine weiß gekleidete Gestalt: “Möchten Sie zu mir?” “Sind Sie der Zahnarzt?” “Ja. Ich hab zwar schon Feierabend, aber andererseits kann ich sowieso nicht schlafen.” “Genau wie ich!“
Ich gehe eine knarrende Wendeltreppe hoch, und oben durch die offene Tür in einen hell erleuchteten Flur. “Guten Abend!”, begrüßt mich Dr. Puszka. “Sie können Ihre Jacke dorthin hängen.” Er deutet ans andere Ende des Flurs. “Für die Haftung der Garderobe gibt es keine Gewährleistung”, fügt er hinzu, und ich denke, dass etwas an dem Satz nicht stimmt. Dann sehe ich das Brett mit den Haken, die nur unzureichend befestigt sind und mich an wackelige Zähne denken lassen, vielleicht weil über ihnen, auf einem Plakat, Werkzeuge der Zahnmedizin abgebildet sind. Vorsichtig hänge ich meine Jacke auf, der Haken, den ich gewählt habe, hält.
“Möchten Sie Tee?” Dr. Puszka deutet auf eine kleine Nische mit Küchenzeile. Ich nicke, er stellt den Wasserkocher an. “Wo tut’s denn weh?”, fragt er mich. “Ich habe keine Zahnschmerzen.” Erstaunt lässt er die Teekanne sinken. “Seltsam”, meint er, und dann fängt er an zu weinen. Ich gebe ihm mein einziges unbenutztes Taschentuch, es ist sofort durchnässt. Danach nimmt er die Küchenrolle. Blatt für Blatt wird nass von seinen Tränen, und fällt zusammengeknüllt zu Boden. Ich würde am liebsten wieder gehen, aber er steht zwischen mir und dem Ausgang, und so warte ich, ziemlich beunruhigt, bis er die halbe Küchenrolle verbraucht hat, und sich so weit gefasst hat, dass er sprechen kann. Er schluchzt: “Sie sind seit Jahren der erste Mensch ohne Zahnschmerzen, der mich besuchen kommt.” Dann weint er wieder, so lange, bis kein Blatt mehr an der Küchenrolle dran ist, nur die nackte graue Röhre hängt noch an der Halterung.
“Ich mache uns jetzt einen Beruhigungstee”, sagt er, “und dann setzen wir uns gemütlich ins Wartezimmer.” Ein Beruhigungstee ist jetzt auch für mich genau das Richtige, und das Wartezimmer ist tatsächlich gemütlich, ein kleiner Raum mit vier Sesseln, einem niedrigen Tisch und einer Spielecke; auf der moosgrünen Tapete fliegen Fledermäuse. “Entschuldigen Sie”, sagt Doktor Puszka, als wir uns gesetzt haben und er den Tee einschenkt. “Das ist ja wirklich sehr traurig”, meine ich und er nickt: “Diese Zustände! Und dabei wollte ich gar kein Zahnarzt werden.”
“Wie ist das denn passiert?”, frage ich. Er sieht eigentlich ganz sympathisch aus, der Dr. Puszka, jetzt, nachdem er aufgehört hat zu weinen, und nur noch seine geschwollenen Augen und die rote Nase daran erinnern.“Interessiert Sie das?”, fragt er mich erstaunt. “Ja.” Er lächelt ein bisschen. “Ich war bei einer Berufsberaterin. Und dort habe ich etwas erzählt, was ich noch nie vorher und nie mehr danach erzählt habe. Ich hatte nämlich einen heimlichen Wunsch.” Er sieht jetzt wieder sehr traurig aus.
“Und was war das für ein Wunsch, wenn ich fragen darf?” “Ich habe ihr gesagt, dass ich mich für Höhlen interessiere. Und war mir sicher, dass sie mir dann rät, Höhlenforscher zu werden. Stattdessen sagte sie: “Die faszinierendste Höhle ist die Mundhöhle. Werden Sie Zahnarzt!”