Als ich von den Kulturwochen in einer Kleinstadt erfahre, bewerbe ich mich und bekomme die Zusage zu zwei Lesungen. Auf einmal weiß ich, was der Ausdruck “stolz geschwellte Brust” bedeutet. So etwas habe ich jetzt. Ich bin breiter geworden. Und größer. Ich lächle fremde Leute an. Und immer wieder schießt mir der Gedanke durch den Kopf: Zwei Lesungen!
Die Gage ist zwar nicht der Rede wert, aber die Fahrtkosten werden übernommen und ich habe endlich ein Publikum, das über meinen Freund*innenkreis hinaus geht. Alle meine Freund*innen gratulieren mir. Meine Therapeutin gratuliert mir. Die Bibliothekarin, bei der ich immer meine Mahngebühren bezahle, gratuliert mir. Ich schaffe es, diese Lesungen in jedes Gespräch einzubauen, sogar der Postbotin erzähle ich davon. Sie runzelt die Stirn, zieht sich ihre Wollmütze über die rot gefrorenen Ohren und sagt: “Oha! Da können Sie mir eine Postkarte schicken!“
Die erste Lesung findet im Seitengebäude eines Cafés statt. Der Raum ist schon proppenvoll, als ich ihn durch die Hintertür betrete, um direkt zum Podium zu kommen. Ich werde mit Applaus begrüßt. Die vielen Leute irritieren mich zwar, aber sobald ich sitze und zu lesen beginne, bin ich in meinem Element. Das Publikum ist bestens aufgelegt und biegt sich schon bei den ersten Sätzen vor Lachen. Und genau das wird mir zum Verhängnis.
In dieses Lachen mischt sich ein anderer Ton, ein leises Pfeifen, das anschwillt und schließlich dreistimmig erklingt. Nach und nach kriechen drei Hunde unter den Sitzen hervor und heben bei jedem Lachen ihre Schnauzen zur Decke, um ein herzergreifendes Heulen erklingen zu lassen, was die Hälfte der Anwesenden sehr amüsant findet und die andere Hälfte unerträglich.
Schon nach drei Absätzen fürchte ich mich vor meinen eigenen Pointen, weil das eigentlich erwünschte Lachen unweigerlich das Heulen der Hunde nach sich zieht, was ja auch okay gewesen wäre, würde es nicht empörte Zwischenrufe aus dem einen Lager und verbale Gegenangriffe aus dem anderen auslösen.
Es dauert immer länger, bis ich weiterlesen kann, und der Inhalt meiner Geschichten verliert sich in den Auseinandersetzungen über das Hundeheulen. Schließlich wird von mir gefordert, ein Hundeverbot auszusprechen, oder, im Gegenteil, doch auch über die Hunde zu lachen. Ich tue weder das eine noch das andere, sondern verstumme nach zwei Geschichten, was von niemandem beachtet wird, weil sich meine Lesung in eine Diskussionsveranstaltung über Hundehaltung verwandelt hat.
Wahrscheinlich sollte ich irgendein Machtwort sprechen, ich traue mich aber nicht zu sagen, dass ich keine spezielle Meinung zu Hunden habe und sie deshalb auch nicht vertreten kann und eigentlich nur daran interessiert bin, meine Geschichten vorzulesen.
Die Situation klärt sich schließlich, indem die Hundebesitzer*innen unter lautstarkem Protest und mit einer beträchtlichen Schar an Anhänger*innen die Lesung verlassen und ein kleiner Kreis übrig bleibt, der erklärt, jetzt endlich in Ruhe meine Geschichten hören zu wollen. Mit verkniffenen Gesichtern sitzen sie da, und meine Pointen lösen jetzt überhaupt nichts mehr aus, weder Lachen noch Heulen. Nur konzentriertes Schweigen begegnet mir, sodass ich mir im Grunde meines Herzens die Hunde zurück wünsche, was ich aber natürlich in dieser Situation auf keinen Fall zugeben darf.
Als ich am nächsten Abend beim zweiten Veranstaltungsort ankomme, erkundige ich mich vorsichtig, ob denn bei der Lesung Hunde zu erwarten seien. Die Frau ist entrüstet: “Natürlich nicht! Wo denken Sie hin. Wir sind eine Bibliothek, bei uns haben Hunde nichts zu suchen.“
Eine Welle der Erleichterung durchfließt meinen ganzen Körper, aber, noch bevor sie in den Fußspitzen angekommen ist, erwähnt die Bibliothekarin, dass allerdings, leider, bedauerlicherweise die Heizung ausgefallen ist. Es gibt aber einen großen Holzofen, meint sie, bevor sie sich entschuldigt, weil sie noch woanders tätig sein muss. Wahrscheinlich geht sie in die Sauna, um ihre steifen Glieder wieder aufzutauen.
Der Raum für die Lesung ist ein wunderschöner großer Saal, der mich an anderen Tagen in Entzücken versetzt hätte. Jetzt kann ich nicht umhin, sorgenvoll die hohen Decken zu betrachten. Um den Holzofen hat sich bereits das Publikum gescharrt, während für mich ein Platz auf einem Podium auf der anderen Seite des Raumes vorbereitet ist: Sessel, Tischchen, Stehlampe, Mikrophon, liebevoll angeordnet.
Ich überlege, das Arrangement näher an den Ofen heran zu rücken, befürchte jedoch, dass der antike Sessel ein beträchtliches Gewicht aufzuweisen hat und einen Sturz vom Podium vermutlich nicht unbeschadet überstehen würde. Außerdem würden die Kabel für Lampe und Mikrofon nicht weit reichen. Schließlich sage ich mir, dass eine Schriftstellerin, wenn sie bekannt werden möchte, den Umständen keine Beachtung schenken darf, solange sie nur die Gelegenheit erhält, ihre Werke vorzustellen. Was bedeuten schon zwei Stunden frieren, wenn mir danach Bewunderung und Anerkennung zuströmen?
Tapfer beginne ich zu lesen. Ich habe mir schon oft in meinem Leben gewünscht, nicht so empfindlich für Kälte zu sein. Aber noch nie war der Wunsch so intensiv wie jetzt. Diese Lesung sollte ein Ereignis sein, bei dem ich mich blendend fühle. Stattdessen fühle ich mich jämmerlich. Und dann tritt auch noch ein natürliches Phänomen ein, mit dem ich nicht gerechnet habe: meine Nase beginnt zu tropfen. Immer öfter schnäuze ich mich kräftig und versuche, dabei den Naseninhalt vollständig zu leeren — vergeblich. Die kälteliebenden Bakterien befinden sich jetzt in paradiesischen Gefilden, vermehren sich ungehemmt und produzieren neuen Rotz in großen Mengen, der dann auf meine bedruckten Blätter tropft. Wo die Tropfen auftreffen, verschwimmt der Text und löst sich auf, nicht nur auf der aktuellen Seite, sondern auch auf den darunterliegenden.
Ich kann zwar große Teile meiner Geschichten auswendig, bin aber trotzdem irritiert von der sich ausbreitenden Nässe und der Tatsache, dass das Papier dadurch durchsichtig wird und Wörter und ganze Sätze von verschiedenen Schichten der darunterliegenden Blätter durchschimmern.
Ich versuche, die Texte so zu halten, dass der Naseninhalt an ihnen vorbei läuft, da ich das Geschriebene aber immer schlechter entziffern kann, und es deshalb sehr nahe an meine Augen heranführen muss, gelingt mir das nicht vollständig.
Ich werde zunehmend in die Irre geführt von den unpassenden Wortfragmenten, lese sie aber dennoch vor, weil Frieren, wie ich jetzt feststelle, das Gedächtnis zu beeinträchtigen scheint. Ich erinnere mich nicht mehr an meine Geschichten und bin dadurch gezwungen, diese absurden Sätze vorzulesen, was aber zum Glück niemanden zu stören scheint, alle lauschen andächtig.
Ich lese auch immer schneller, um aus dieser frostigen Situation entfliehen zu können, und die Blätter werden immer feuchter und schmieriger, und lösen sich schließlich auf, sodass ich nur noch einzelne Papierfetzen in der Hand halte, als ich endlich zum Schluss komme. Kein Applaus. Überhaupt keine Regung. “Ich bin fertig”, sage ich schüchtern, und bemerke erst ein paar Augenblicke später, dass dort, am warmen Ofen, alle eingeschlafen sind.
Nach dieser Lesung bin ich deprimiert. Am nächsten Morgen stehe ich lustlos auf. Ich habe meinen Zug erst für den Abend gebucht, wahrscheinlich weil ich mir vorgestellt habe, diesen Tag mit meinen Fans und den Schriftsteller*innen der Stadt zu verbringen. Stattdessen sitze ich zwei Stunden alleine im Café, von Halsweh und Schnupfen geplagt, und denke darüber nach, ob es vielleicht doch einfacher ist, weiterhin als Verkäuferin oder Putze zu arbeiten, weil ich bei diesen Tätigkeiten nicht erwarte, berühmt zu werden.
Schließlich raffe ich mich auf, um eine Ausstellung über Wetterphänomene zu besichtigen, die mir der Kellner empfohlen hat, vielleicht, um mein verzagtes Gesicht nicht mehr sehen zu müssen. Ich stapfe durch einen verschneiten Park, laufe graue Straßen entlang und freue mich darauf, wenigstens im Museum der Sonne zu begegnen. Die Frau an der Kasse erzählt mir, dass gerade eine Führung begonnen hat. “Wenn Sie sich beeilen, können Sie noch mitmachen.” Sie reicht mir einen Raum-Plan.
Ich will im Gegenteil der Gruppe ausweichen, und nehme eine Abkürzung. Aber im Saal der plötzlichen Unwetter stoße ich mit der Menschenmenge zusammen. Eine Frau steuert auf mich zu, ruft “Hallo!”, schüttelt mir begeistert die Hand und erzählt dann lautstark, was für eine tolle Schriftstellerin ich wäre! “So eine gemütliche Lesung in der Bibliothek! Ihre Geschichten haben eine wunderbar harmonische Wirkung auf uns ausgeübt, sodass wir uns hinterher alle wie verschwistert gefühlt haben. Wirklich, das war entspannender als jedes Wellness-Wochenende!“
Woraufhin sich ein Mann einmischt und erklärt, im Gegenteil, meine Lesung im Café wäre so aufregend gewesen, dass er nach einem langen anstrengenden Arbeitstag noch einmal richtig wach geworden wäre. Und wie ich sogar die Hunde mit einbezogen hätte, das wäre einmalig gewesen. “Ein Gesamtkunstwerk für Mensch und Tier”, ruft er. “Mein Leben lang werde ich mich an Sie erinnern!” Jetzt recken alle die Hälse und wollen einen Blick auf mich erhaschen.
Ich bin überrumpelt. Geschmeichelt zwar, aber auch im Zweifel darüber, ob diese Leute überhaupt etwas von meinen Geschichten mitbekommen haben. Ist das jetzt der Ruhm frage ich mich, als sich die Leute anstellen, um auf ihrer Autogramme-App eine Unterschrift und ein paar persönliche Worte von mir zu bekommen. Ich schiele nach der Museumsführerin, doch sie scheint ganz zufrieden damit zu sein, die Unterhaltung der Leute an mich abgegeben zu haben.
Mechanisch schreibe ich die immer gleichen Wörter auf die Touchscreens. Ich denke an die Textfetzen, die von gestern Abend übrig geblieben sind und die immer noch in meiner Tasche stecken, und fühle mich ihnen verwandt. Irgendetwas stimmt hier nicht. Es sollte sich anders anfühlen, das Berühmtsein. Es sollte etwas mit mir zu tun haben. Als ich fertig bin, klatscht die Museumsführerin in die Hände: “Weiter geht’s, zum Niederschlag!” Die Gruppe folgt ihr in den nächsten Raum, ich bleibe alleine zurück und umarme das Standbarometer.