Delikatöse Bedrohung

Ameisenköder, der wie ein Gesicht aussieht, mit roten Augen und Mund, auf einem Heizungsgitter

Du dach­test immer, dass es plötz­lich pas­siert: alle Lam­pen gehen gleich­zei­tig aus, weil jemand über Nacht die Macht an sich geris­sen und jetzt das Sagen hat. Will­kür­li­che Ver­bo­te, kei­ne Mei­nungs­frei­heit mehr, Gefäng­nis­se fül­len sich mit Unschul­di­gen. Aber, kein Grund zur Sor­ge oder gar Vor­sor­ge: so etwas pas­siert nur in Län­dern, die vor­her auch schon suspekt waren, und nicht bei uns.
Denn wir haben Deli­ka­tes­se! Das ist nicht nur das bes­se­re, son­dern das bes­te. Deli­ka­tes­se gibt es nur in Euro­pa, oder in Län­dern, die Europäer*innen besie­delt haben. Die Deli­ka­tes­se ist sogar in Euro­pa gebo­ren, des­halb stol­zie­ren wir. Auch wenn schon von Anfang an nicht alle einen Löf­fel in die Hand bekom­men haben, und das bis heu­te so geblie­ben ist, gilt die Deli­ka­tes­se bei den Pri­vi­le­gier­ten als Mus­ter­bei­spiel der Gleich­be­rech­ti­gung und gut gefeit gegen alles Unge­nieß­ba­re. 
Aber was, wenn es nicht so plötz­lich kommt? Wenn die Lam­pen nach und nach aus­ge­hen, und sich etwas ein­schleicht, hier und da, und schon längst nicht mehr schleicht, son­dern stampft? Und du dich fragst, wann und wie ist das denn pas­siert? 
Seit Jah­ren gewöh­nen wir uns dar­an, dass an unse­ren Tel­ler­rän­dern mas­sen­haft Men­schen ster­ben. Denn nicht alle sol­len mit­es­sen. Mit­ten in der Deli­ka­tes­se kei­men neue Delik­te: Men­schen ret­ten kann jetzt bestraft wer­den. Dann näm­lich, wenn es die fal­schen Men­schen sind. Mit­es­ser.
Wer an einem See steht und zusieht, wie jemand ertrinkt, wird ver­ur­teilt wegen unter­las­se­ner Hil­fe­leis­tung. Am Mit­tel­meer ist es umge­kehrt. Bei Men­schen­ret­tung dro­hen 100 Jah­re Haft und mehr. Denn Leu­te, die wir nicht wol­len, haben ihr Recht auf Leben ver­wirkt. Nie­mand soll ver­hin­dern, wenn sie unter­ge­hen. Mit ihnen ver­sin­ken die Wer­te des Abend­lan­des.
100 Mil­li­ar­den für Mili­tär und die Rüs­tungs­in­dus­trie: eine Ent­schei­dung des Kai­sers. Auf­rüs­tung ist wie­der ange­sagt. Bei der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung wird gespart, weil es auch so irgend­wie funk­tio­niert. Du musst dir eine Krank­heit schon leis­ten kön­nen. Gesund­heit ist das größ­te Gutdünken. 

Wer Trak­tor hat, darf mehr: Stra­ßen blo­ckie­ren, Men­schen und Pres­se, aber man muss Ver­ständ­nis für die Leu­te haben, vie­le von ihnen sind wohl­ha­bend, sie blei­ben unbe­hel­ligt. Wer hin­ge­gen an einer guten Zukunft für alle Lebe­we­sen klebt, wird beim Stra­ßen-Blo­ckie­ren ver­haf­tet, ange­zeigt und ver­ur­teilt. Denn die­se Leu­te sind für alles ver­ant­wort­lich, was in der Blo­cka­de-Zeit pas­siert und nicht pas­siert. 
Wäh­rend der deut­sche Anti­se­mi­tis­mus weit­ge­hend unge­hin­dert die Lef­zen fletscht; droht, beißt und tötet, wird die Schuld nur bei den Frem­den gesucht. Das christ­lich-jüdi­sche Abend­land, lan­ge Zeit unbe­kannt, hat Hoch­kon­junk­tur. Und passt gut zu den Kriegs­vor­be­rei­tun­gen: Nur auf einer Sei­te ste­hen, eine Sei­te ver­ste­hen, kein Stan­ding Tog­e­ther*! Unse­re Ver­bre­chen von vor 80 Jah­ren hin­dern uns selt­sa­mer­wei­se dar­an, uns heut­zu­ta­ge für Frie­den und Men­schen­rech­te aus­zu­spre­chen. Und die wich­tigs­te Leh­re, die die Deut­schen aus der Geschich­te zie­hen, ist: Wir waren damals ein­ma­lig im Ver­nich­ten, nie­mand darf sich mit uns ver­glei­chen. 
Die einen spre­chen von Abschie­bung im gro­ßen Stil, wie kann man das noch über­bie­ten? Den Kreis der Betrof­fe­nen aus­wei­ten auf 20 bis 30 % der Bevöl­ke­rung. Und da, end­lich, ist die Gren­ze über­schrit­ten, das behag­li­che Leben nicht mehr so leicht mög­lich. Mas­sen­haf­te Demons­tra­tio­nen, so vie­le Leu­te auf der Stra­ße … es ist eine Bit­te: wir möch­ten nicht so weit nach rechts. 
Die­ser Bit­te wird nicht ent­spro­chen. Politiker*innen gucken betrof­fen, es hin­dert sie aber nicht dar­an, Ver­schlech­te­run­gen für Geflüch­te­te ein­zu­füh­ren, geschwei­ge denn, irgend­et­was für sie zu ver­bes­sern. Die­se Asyl­ver­wei­ge­rer lau­fen bei den Demos mit, zei­gen ent­schlos­se­ne Mie­ne, demons­trie­ren gegen sich selbst oder wofür eigent­lich. Und all die ande­ren, wo gehen sie hin? Wo gehen wir hin? Was ist es, was uns ver­bin­det? Und was machen wir jetzt? 
Ein Knall nach dem ande­ren, und trotz­dem bleibt es so lei­se, in die­sem Detonations‑, Teu­to-Nati­ons­land. Immer wie­der sehen wir uns erschro­cken um: schon wie­der ein Schritt zu mehr Ungleich­heit und Bru­ta­li­tät. Wor­an hal­ten wir uns jetzt? So vie­le anti­fa­schis­ti­sche, femi­nis­ti­sche und ande­re Bewe­gun­gen wur­den erfolg­reich ver­un­glimpft, alle Feh­ler ins Ram­pen­licht gezerrt, die Stär­ken klein gemacht; eine Iden­ti­fi­ka­ti­on damit ist jetzt kaum mehr mög­lich. Links ist immer das schlim­me­re Schimpf­wort. 
Und trotz­dem sind das die Schul­tern, auf denen wir jetzt ste­hen und uns die Hän­de rei­chen kön­nen. Hal­ten uns nicht mit der Fra­ge auf, ob es schon zu spät ist! Es gibt immer Mög­lich­kei­ten. Kon­kre­te Soli­da­ri­tät mit den jetzt schon Betrof­fe­nen von Unmensch­lich­keit: wenn wir hin­spü­ren, mer­ken wir die Gewalt, die sie trifft, in unse­ren Her­zen. Zeit für Trau­er, für die Ver­wir­rung, Ver­ne­be­lung, die ent­steht, wenn so vie­les pas­siert, das eine Reak­ti­on erfor­dert.
Klar wer­den und ent­schei­den: Wel­ches sind unse­re Lecker­bis­sen und was ist nicht mehr deli­kat, son­dern deli­ka­tös und unge­nieß­bar gewor­den? Koope­ra­ti­on, Mit­ein­be­zie­hen, Wege für kon­struk­ti­ven, streit­ba­ren Frie­den. Umver­tei­lung aller Lebens-Mit­tel. Macht für alle. Befrei­en wir uns von Natio­na­li­tät, schlie­ßen wir uns zusam­men! Blei­ben wir an unse­rem Leben kle­ben, wir haben erst­mal nur das eine.


* Stan­ding Tog­e­ther: Bewe­gung jüdi­scher und paläs­ti­nen­si­scher Aktivist*innen gemein­sam für Frie­den, Gleich­heit und sozia­le Gerech­tig­keit, die die sofor­ti­ge Frei­las­sung der israe­li­schen Gei­seln for­dern, sowie einen Stopp der Bom­bar­die­rung und die Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung in Gaza.