Wilde Wolken zerfetzen den Himmel, Sturmwind treibt und wirbelt, kein Platz für meine Traurigkeit, der Wind reißt alles mit, Blätter, Zweige, lose Ziegel, festgehaltene Gedanken … meine Bettdecke wird hoch gehoben und weg gerissen. Ich bleib zitternd liegen, schau zum Himmel, da fliegt sie, meine Decke mit dem roten Bezug, der mir der liebste war.
Verstört mach ich mich auf, sie zu suchen, meine Bettdecke, und da hängt sie, im Weißdorn, ein paar Gärten weiter. Die alte Frau am Fenster schaut mir zu, wie ich die Decke herunter hole, der Bezug bleibt an den Dornen hängen, reißt ein. “Ja, so war ich auch einmal”, sagt sie, “möchtest du einen Tee?“
Ich möchte keinen, will nur nach Hause. Ich schüttle den Kopf, wende mich zum Gehen, aber jetzt brechen die Wolken, es gießt und hagelt auf mich ein, ich flüchte ins Haus. Vier Stufen hoch, ihre Wohnungstür steht offen, vom Flur geht’s gleich in ein Wohnzimmer, in der Mitte ein Holzofen. “Setz dich”, sagt die Frau, Sepia stand auf dem Klingelschild. Sie deutet auf einen Sessel, der zweite ist schon besetzt, mit einem alten Mann, “Mein Bruder”, stellt sie ihn vor.
Er sagt: “Guten Tag”, ich nicke ihm zu, versuche freundlich zu sein, starre ihn aber böse an. Sie sind so vertraut miteinander, die beiden Alten, und mir steht die Vergangenheit bis zur Kehle, ich muss hier wieder raus, und werde von Frau Sepia in den Sessel gedrückt. “Ich hol den Tee”, sagt sie, durchs offene Fenster springen nasse Katzen, fauchen, streiten sich um das Kissen am Ofen. Ich presse meine Bettdecke eng an mich.
“Was ist mit dir”, fragt Frau Sepia, als sie ein Tablett mit Tee und Keksen auf das kleine Tischchen neben mich stellt. Ich weine. Der Bruder zieht ein grünkariertes Taschentuch aus seiner Brusttasche und reicht es mir. Die Frau setzt sich auf das Sofa und schaut zum Fenster hinaus, der Sturm trägt herein, was er so findet, Blumenköpfe, Staub, scheppernde Plastiklöffel, einen großen schwarzen Vogel, zerzaust, der Schnabel blutrot.
“Nichts für dich dabei?”, fragt sie. Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht, strecke die Hand aus, der Vogel hüpft auf meinen Unterarm, legt den Kopf schief, um mich zu beäugen. “Mein Bruder hat sich gegen mich entschieden”, sage ich. “Vor zwanzig Jahren.”
Borsten
Ich habe eine schöne Wohnung. Problematisch ist nur der Weg dorthin. Das Treppenhaus. Genauer gesagt, eine Tür im Treppenhaus. Auch heute passiert es wieder. Ich bin schon daran vorbei, als die Tür aufgeht. Heraus guckt Frau Beste und fragt: “Ist das ihr T Shirt, was da unten auf der Leine hängt?” “Nein”, sage ich, und damit könnte das Gespräch beendet sein, aber es war erst der Anfang. “Es hängt schon seit drei Wochen da”, sagt sie anklagend.
Ich erkläre langsam und deutlich: “Das ist nicht mein T Shirt.” “Kommen Sie mal mit!” Schon ist sie auf dem Weg in den Keller. Ich bleibe stehen. Das ist nicht mein Problem, sage ich mir und weiß schon, dass es nicht stimmt. Kurze Zeit später stehe ich neben Frau Beste im Wäschekeller und sie hält mir das T Shirt unter die Nase: “Sehen Sie sich das mal genau an!“
Das T Shirt ist grau. Wenn ich mir einer Sache ganz sicher bin, dann der, dass ich mir noch nie in meinem Leben ein graues T‑Shirt gekauft habe. Auch geschenkt würde ich es nicht nehmen. Die Sache ist also eindeutig. Ich sage: “Das ist nicht meins.” Aber ich werde nicht entlassen. “Manche Sachen verlieren ihre Farbe in der Wäsche”, legt mir Frau Beste als Erklärung nahe. “Grauschleier”, sagt sie noch hilfreich. Ich weiß nicht, wie viele Jahre lang ich meine T Shirts ununterbrochen waschen müsste, damit sie so einen Grauschleier bekommen. Außerdem hat das T Shirt kleine Rüschen am Saum. Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind es Rüschen an meinen Kleidungsstücken.
Ich schüttle den Kopf. “Alle anderen im Haus habe ich schon befragt”, sagt Frau Beste, “es kann also nur Ihr T‑Shirt sein.” Sie strahlt mich an, weshalb es mir ungerecht vorkommt, dass ich wütend bin. “Es tut mir Leid, sage ich, aber …” Frau Beste unterbricht mich: “Das kann allen mal passieren. Und ich mache es ja gerne. Irgendjemand muss sich um die Ordnung im Haus kümmern. Aber bitte denken Sie daran, die Wäsche nach dem Trocknen gleich abzunehmen. Wir alle brauchen Platz, nicht wahr?“
Als ich wieder nach oben gehe, habe ich das graue T‑Shirt in der Hand. Ich rede mir ein, dass das die beste Lösung war und dass es überhaupt nicht schlimm ist, dieses T‑Shirt jetzt zu haben, aber in Wirklichkeit könnte ich heulen. Warum kann ich mich in so einer einfachen und eindeutigen Angelegenheit nicht durchsetzen?
Paket
“Sie haben ein Paket bekommen”, ruft es von unten. Ich beuge mich über den Geländerrand im vierten Stock: “Kommen Sie ruhig hoch!” “Ich kann nicht”, ächzt der Postbote. “Schon gar nicht ruhig.” Jetzt bin ich auch beunruhigt. Ich kann mich nicht erinnern, etwas bestellt zu haben. Doch, fällt mir beim Hinunterlaufen ein, ein Stativ. Es sollte allerdings klappbar sein. Das Paket überragt den Postboten, der auch nicht gerade klein ist, und jetzt einen hochroten Kopf hat. “Alleine schaffe ich das nicht”, behauptet er, und tatsächlich ist dieses Monsterpaket so schwer, dass ich es nicht einmal anheben kann. Ich hole den Nachbarn aus dem ersten Stock zu Hilfe, der dreimal die Woche ins Fitnessstudio geht und immer nach Herausforderungen sucht. Er schleppt das Paket eine Treppe hoch, dann bleibt er keuchend stehen und reibt sich seinen Rücken.
Zu dritt schaffen wir es schließlich. “Was haben Sie denn da bestellt?”, will der Nachbar wissen. Das frage ich mich auch. Habe ich schon wieder etwas Falsches angeklickt? Vielleicht ist das Stativ aus Gußeisen. Oder da stand nicht “Stativ”, sondern “Statue”. Nie wieder übermüdet Internet-Bestellungen machen, nehme ich mir vor, als der Postbote und der Nachbar die Treppen hinunter wanken.
Ich zwänge mich an dem Paket vorbei, das jetzt einen beträchtlichen Teil des Eingangsbereiches einnimmt, und beschließe, mir erstmal einen Cappuccino zu machen. Da weiß ich noch nicht, dass dies das letzte friedliche Kaffeetrinken in meiner Küche sein wird. Ich löffle den Sojamilchschaum mit einem Stück dunkler Schokolade, schaue aus dem Fenster auf den ersten grünen Blätterflaum an den Bäumen, und sinne darüber nach, warum ausgerechnet vor meinem Balkon eine Hainbuche steht, von der sich das Wort “hanebüchen” ableitet, was soviel wie absurd und abwegig bedeutet. Und dann höre ich Geräusche im Flur.
Außerplanmäßig
Ich bin auf dem Nachhauseweg. Mein Zug hat Verspätung. Während ich auf dem Bahnsteig stehe und mir die Hände reibe, die sich trotz Handschuhen steif und kalt anfühlen, wird der außerplanmäßige Halt eines Zuges angesagt. Kurze Zeit später fährt er ein. Ein Frecciarossa, ein roter Pfeil, aus Italien. Seit wann fahren die hier lang? Amsterdam — Monaco — Roma, steht an der Flanke des Zuges. Rom! Ich werde unruhig beim Anblick dieser roten Waggons. Die Frecce fahren nur innerhalb Italiens. Irgendwas stimmt da nicht. Und dann sehe ich es: da sitze ja ich, in diesem Zug, natürlich in ein Buch vertieft.
Nein, das kann doch nicht … mit einem Sprung bin ich am Zug, klopfe ans Fenster. Ich da drin löse den Blick vom Buch, hebe den Kopf, und dann schaut sie, die ich ist, raus und unsere Blicke begegnen sich. Der Zug rollt an, ich habe nicht die Kraft, nebenher zu laufen, einen Halt zu erzwingen, wenigstens zu schreien. Erschüttert bleibe ich zurück, ich hier auf dem Bahnsteig, während mein anderes Ich unterwegs ist, nach Rom.
Denn da gibt es keine Zweifel, sie, die ich ist, wird nicht in München aussteigen, sie fährt nach Rom, sie lebt dort. So wie ich es beinahe getan hätte, vor ach so vielen Jahren. Ich habe davon gehört, dass es Paralleluniversen gibt, in denen wir, wer auch immer das dann ist, die Leben leben, die auch möglich gewesen wären. Aber ich dachte immer, dass diese Universen eben parallel zu unserem verweilen würden, ohne Schnittpunkte.
Ist heute so eine Parallelwelt auf die schiefe Bahn geraten, oder hat dieses andere Ich samt rotem Zug die Universen gewechselt? Ich löse mich aus meiner Erstarrung und strebe einen Schaffner an. Er ist von einer Traube von Menschen umringt, die er mit den Worten “Achten Sie auf die Zugdurchsagen!” zurück lässt. Ich hefte mich an seine Fersen: “Sagen Sie bitte, der Zug, der eben hier gehalten hat, wie lange braucht der nach Rom?” Er wimmelt mich ab. “Der war außerplanmäßig hier. Über den kann ich keine Auskunft geben.“
20 Stunden mindestens, denke ich. Ich könnte hinfliegen. Auf dem Bahnhof warten, bis ich aussteige. Und mich verfolgen, mir zugucken, wie ich in Rom lebe. Leben würde, wenn ich damals zu Lorenza gezogen wäre. Aber warum? Außerdem muss ich morgen arbeiten. Ich bin doch zufrieden mit meinem Leben. Und der Entscheidung, die ich damals getroffen habe.
Wer weiß, wer das da im Zug war. Sie sah mir ähnlich, mehr nicht. Paralleluniversen, falls es sie denn geben sollte, haben wahrscheinlich anderes zu tun als ausgerechnet meinen Weg zu kreuzen. Diese Ausflüchte helfen mir nicht. Ich weiß genau, dass ich im Zug war. Aber was mache ich, wenn ich in Rom feststelle, dass das dort das Leben ist, das ich leben möchte, und hier nur eine weniger geglückte Parallele? Kann ich denn in ein anderes Leben umziehen, will ich das überhaupt? Und was passiert dann mit meinem anderen Ich?
Ratlos bleibe ich auf dem Bahnsteig stehen und warte auf Hinweise, aber es kommen keine, es kommt nur mein Zug und ich steige ein. Statt zu lesen suche ich in meinem Handy nach dem Frecciarossa. Im deutschen Netz finde ich ihn nicht, ich probiere es mit der italienischen Gesellschaft, Trenitalia. Keiner der Frecce fährt nach Amsterdam.
Und keine Schaffnerin kommt, die ich fragen könnte, nur eine Person mit Servierwagen, bei der ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten einen Kaffee kaufe. Als ich ihr das Geld gebe, frage ich sie leise: “Würden Sie nach Rom ziehen?” Sie lacht. “Da war ich erst gestern! Ich zieh ja dauernd rum.” Und dann zieht sie ihren Wagen weiter und ich bleib sitzen mit einem Becher voll hellbraunem Wasser, der mir die Hände wärmt und den ich dann, als ich aussteige, in einen Mülleimer versenke.
Ich könnte mich für morgen krank melden, sinniere ich auf dem Nachhauseweg. Heute Abend um halb zehn geht noch ein Flug nach Rom. Was für eine Geldverschwendung und Umweltverschmutzung! Außerdem hat sich die Stadt sicher verändert, ist voller und lauter geworden, wie so viele Städte, die jetzt billig angeflogen werden können. Ich muss wahrscheinlich nur einen Tag in Rom verbringen, um zu wissen, dass ich dort nicht wohnen will. Und wenn nicht? Was ist, wenn ich tatsächlich mir begegne in Rom, und wenn ich dort auch ein gutes Leben habe?
Wieso habe ich auf einmal diese Probleme und solche Fragen? Vor einer Stunde habe ich mich nur über die Zugverspätung geärgert. Jetzt wünsche ich mir diesen kleinen Ärger zurück anstatt der großen Verunsicherung, die mich befallen hat. Und Lorenza? Wenn ich sie dort treffe, in Rom, wenn wir gar ein Paar sind? Lorenza, meine große Liebe, die aber eine andere wollte oder vielleicht nur ihre Freiheit, wer weiß.
Zahnarzt
Bei einem meiner nächtlichen Spaziergänge komme ich durch eine kleine Gasse und bemerke an einer der Haustüren einen handgeschriebenen Zettel: “Dr. Puszka, Zahnarzt. Bitte drei mal klingeln.” Ich drücke auf den Klingelknopf, dann fällt mir die Uhrzeit ein, ich zögere. Über mir geht ein Fenster auf und ein Kopf streckt sich raus, eine weiß gekleidete Gestalt: “Möchten Sie zu mir?” “Sind Sie der Zahnarzt?” “Ja. Ich hab zwar schon Feierabend, aber andererseits kann ich sowieso nicht schlafen.” “Genau wie ich!“
Ich gehe eine knarrende Wendeltreppe hoch, und oben durch die offene Tür in einen hell erleuchteten Flur. “Guten Abend!”, begrüßt mich Dr. Puszka. “Sie können Ihre Jacke dorthin hängen.” Er deutet ans andere Ende des Flurs. “Für die Haftung der Garderobe gibt es keine Gewährleistung”, fügt er hinzu, und ich denke, dass etwas an dem Satz nicht stimmt. Dann sehe ich das Brett mit den Haken, die nur unzureichend befestigt sind und mich an wackelige Zähne denken lassen, vielleicht weil über ihnen, auf einem Plakat, Werkzeuge der Zahnmedizin abgebildet sind. Vorsichtig hänge ich meine Jacke auf, der Haken, den ich gewählt habe, hält.
“Möchten Sie Tee?” Dr. Puszka deutet auf eine kleine Nische mit Küchenzeile. Ich nicke, er stellt den Wasserkocher an. “Wo tut’s denn weh?”, fragt er mich. “Ich habe keine Zahnschmerzen.” Erstaunt lässt er die Teekanne sinken. “Seltsam”, meint er, und dann fängt er an zu weinen. Ich gebe ihm mein einziges unbenutztes Taschentuch, es ist sofort durchnässt. Danach nimmt er die Küchenrolle. Blatt für Blatt wird nass von seinen Tränen, und fällt zusammengeknüllt zu Boden. Ich würde am liebsten wieder gehen, aber er steht zwischen mir und dem Ausgang, und so warte ich, ziemlich beunruhigt, bis er die halbe Küchenrolle verbraucht hat, und sich so weit gefasst hat, dass er sprechen kann. Er schluchzt: “Sie sind seit Jahren der erste Mensch ohne Zahnschmerzen, der mich besuchen kommt.” Dann weint er wieder, so lange, bis kein Blatt mehr an der Küchenrolle dran ist, nur die nackte graue Röhre hängt noch an der Halterung.
“Ich mache uns jetzt einen Beruhigungstee”, sagt er, “und dann setzen wir uns gemütlich ins Wartezimmer.” Ein Beruhigungstee ist jetzt auch für mich genau das Richtige, und das Wartezimmer ist tatsächlich gemütlich, ein kleiner Raum mit vier Sesseln, einem niedrigen Tisch und einer Spielecke; auf der moosgrünen Tapete fliegen Fledermäuse. “Entschuldigen Sie”, sagt Doktor Puszka, als wir uns gesetzt haben und er den Tee einschenkt. “Das ist ja wirklich sehr traurig”, meine ich und er nickt: “Diese Zustände! Und dabei wollte ich gar kein Zahnarzt werden.”
“Wie ist das denn passiert?”, frage ich. Er sieht eigentlich ganz sympathisch aus, der Dr. Puszka, jetzt, nachdem er aufgehört hat zu weinen, und nur noch seine geschwollenen Augen und die rote Nase daran erinnern.“Interessiert Sie das?”, fragt er mich erstaunt. “Ja.” Er lächelt ein bisschen. “Ich war bei einer Berufsberaterin. Und dort habe ich etwas erzählt, was ich noch nie vorher und nie mehr danach erzählt habe. Ich hatte nämlich einen heimlichen Wunsch.” Er sieht jetzt wieder sehr traurig aus.
“Und was war das für ein Wunsch, wenn ich fragen darf?” “Ich habe ihr gesagt, dass ich mich für Höhlen interessiere. Und war mir sicher, dass sie mir dann rät, Höhlenforscher zu werden. Stattdessen sagte sie: “Die faszinierendste Höhle ist die Mundhöhle. Werden Sie Zahnarzt!”
Eifersucht
Als ich am Freitagabend nach Hause komme, sitzt vor meiner Wohnungstür eine Katze. Ich bleibe auf der Treppe stehen und wedle mit den Händen, um das Tier zu verscheuchen. Sie bleibt sitzen und schaut mich an. Grüne Augen.
Ich klingle beim Nachbarn gegenüber. “Wissen Sie, zu wem diese Katze gehört?”, frage ich ihn, als er öffnet und mich überrascht ansieht. Ich habe noch nie bei ihm geklingelt. “Die ist von unten”, sagt er und deutet einen Stock tiefer. “Die Katze von unten ist rothaarig”, gebe ich zu bedenken, “und hat sehr langes Fell, während diese hier …”, ich zögere, etwas zu beschreiben, was er ja selbst sieht, aber vielleicht sieht er etwas anderes als ich, “während diese hier schwarz und kurzhaarig ist.“
Der Nachbar zuckt mit den Achseln, als wären Frisuren und Haarfarben keine nennenswerten Kriterien. Er selbst hat auch nichts dergleichen auf dem Kopf. “Und jetzt?”, frage ich ihn, in der Hoffnung, dass er sich zuständig fühlt. “Was machen wir mit der Katze?” Ich verkneife es mir, zu erwähnen, dass sie sich schließlich mit seiner Glatze reimt. Er zieht die Stirn in Falten und sieht die Katze, die ihre Krallen an meinem Türvorleger schärft, nachdenklich an. “Ich bin gegen Tierleid”, sagt er dann und verschwindet mit einem knappen “Guten Abend”.
Ich starre die geschlossene Tür an. Ich bin auch gegen Tierleid. Aber, was bedeutet das in diesem konkreten Fall? Weil mir nichts anderes einfällt, schließe ich meine Tür auf. Ganz selbstverständlich kommt die Katze mit rein. “Ich hab aber nichts zu essen für dich”, sage ich. Sie schnurrt und findet den Weg in die Küche alleine.
Wenig später bin ich auf dem Weg zum Supermarkt. Ich verweile in der Haustierabteilung, die ich bis jetzt immer mit einem überlegenen Lächeln gemieden habe. Das Angebot an Katzenfutter ist überwältigend. Zum Glück weiß ich, seit einer Affäre mit einer Supermarktverkäuferin, dass die billigsten Produkte immer ganz unten stehen.
Zu Hause breite ich Zeitungspapier auf dem Boden aus und stelle die geöffnete Dose darauf. Die Katze schnuppert, kostet, rümpft die Nase, schüttelt die Pfote und miaut so anklagend, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. So billiges Futter ist bestimmt minderwertig und enthält schädliche Zusatzstoffe. Gut, dass ich die Schuhe noch nicht ausgezogen habe.
Als ich später erschöpft und hungrig auf dem Sofa sitze und darüber nachdenke, wie ich dieses Tier am schnellsten wieder los werde, kommt sie zu mir und schmiegt sich an mich. Mein Herz wird weich. Ich esse ja auch nicht alles. Ich streichle die Katze und bemerke einen kleinen weißen Halbmond auf ihrer Brust. Selína, sage ich zu ihr, vom griechischen σελήνη für Mond, und sie sieht mich an, als ob ich ihren Namen erraten hätte.
“Brauchen wir nur noch einen Schlafplatz für dich”, sage ich später zu ihr und wundere mich schon gar nicht mehr darüber, dass ich mit einer Katze spreche. Selína löst dieses Problem ohne viel Federlesens, indem sie es sich in meinem Bett bequem macht. “Ein Fehler”, sagt Fiona, als ich ihr am nächsten Tag davon erzähle. “Du musst ihr Grenzen zeigen. Und du darfst dich nicht an sie gewöhnen. Wer weiß, wo sie hin gehört.“
Aber Selina bleibt das ganze Wochenende. Am Montag besorge ich eine Katzenleiter für den Balkon und reaktiviere die Katzenklappe in der Balkontür, die die Vormieterin angebracht hat. “Probier mal”, sage ich, und Selína läuft elegant die Leiter hinunter, findet flugs ein Loch im Gartenzaun und verschwindet zwischen den Buchsbaumbüschen des Nachbargartens.
Fiona ruft an: “Vielleicht sind die Leute, bei denen sie gewohnt hat, umgezogen. Katzen laufen oft zum alten Haus zurück und sind dann verwirrt, weil sie nicht mehr rein kommen. Du musst Zettel aufhängen: “Katze zugelaufen.” Sie kommt sogar vorbei und hilft mir, den Text zu verfassen und meine Telefonnummer mehrmals quer dazu zu platzieren. Nach dem Ausdrucken trennen wir die Nummern mit der Schere voneinander, sodass sie einzeln abgerissen werden können. Die Scherenschnitte gehen mir ans Herz.
Gemeinsam fahren wir durch die Straßen und kleben den Hinweis auf Ampelstangen und Straßenlaternen. Mit jedem geklebten Zettel werde ich trübsinniger, während Fiona am Ende sehr zufrieden ist. “Jetzt hast du alles getan, um die rechtmäßigen Besitzer*innen zu informieren.”
“Ich finde es unmoralisch”, keife ich sie an, “bei einer Katze von rechtmäßigen Besitzer*innen zu sprechen.” “Was ist denn in dich gefahren?”, fragt sie mich erstaunt. “Ich bin gegen Tierleid”, werfe ich ihr an den Kopf und radle davon. Zu Hause tut es mir Leid, ich schicke ihr eine versöhnliche Telegram-Nachricht. Sie geht sofort darauf ein — ach, liebe Fiona-Freundin, denke ich — und wünscht mir eine gute Nacht.
Ich habe aber keine. Ich kann nicht schlafen. Selína ist nicht zurück gekehrt und ich stelle mir vor, wie sie durch die Straßen läuft, und überall diese Zettel sieht, mit denen ich sie loswerden möchte.
Bett
Frühmorgens, auf dem Weg zur Arbeit, gehe ich durch eine menschenleere Straße, als ich auf einmal hinter mir ein ungewohntes Klacken höre. Ich drehe mich um und da stakst, wie ein breiter flacher Hund, mein Bett. Ich bin entsetzt, es hier auf der Straße zu sehen, noch dazu in diesem Zustand. Ich habe es heute morgen nicht gemacht und jetzt ist es mir peinlich, dass es mit dieser zerwühlten Bettdecke herumläuft.
“Was willst du hier”, zische ich, “geh nach Hause!” Stur kommt es immer weiter auf mich zu getrottet, unbeholfen, weil es Schwierigkeiten damit hat, die vier Beine zu koordinieren. Es schwankt von einer Seite zur anderen, manchmal hebt es auch drei Beine auf einmal und das vierte, auf dem dann alles lastet, knarrt bedenklich.
“Lass den Blödsinn! Du siehst doch, dass du nicht weit damit kommst!” Das Bett hört nicht auf mich, womöglich ist es auch gar nicht hörfähig. Ich mache abwehrende Gesten, ohne dass das die gewünschte Wirkung zeigen würde. Unbeirrt probiert das Bett weitere Gangarten aus und kommt dabei immer näher auf mich zu.
Ich habe dieses Bett vor ein paar Monaten gekauft, als ich Arbeit in einem Büro bekommen habe und dachte, zu einem gehobenen Lebensstandard würde auch gehören, die Matratze statt auf den Boden auf ein Gestell zu legen. Ich wusste ja nicht, was ich mir damit einbrocke. Im Geschäft sah es aus wie ein ganz normales Bett. Es war allerdings stark reduziert. Ich habe nicht nach dem Grund gefragt, was ich jetzt bereue. Eigentlich müsste noch Garantie drauf sein. Nur kann ich diese wahrscheinlich nicht beanspruchen, wenn das Bett im Gulli hängen bleibt und sich dabei ein Bein bricht.
Ich muss jetzt zur Arbeit. Ich habe keine Zeit für Eskapaden. Soll das Bett doch im Straßengraben enden, wenn es unbedingt auf solchen Verrücktheiten besteht. Ich eile weiter. Bevor ich abbiege, drehe ich mich noch einmal um und sehe, dass mein Bett zwischen der Hauswand und einer Straßenlaterne stecken geblieben ist. Okay, dann werde ich es heute Abend dort abholen. Ich hoffe, ich muss keine Gebühren fürs Falschparken bezahlen.
Ich beschließe, mit der Straßenbahn zur Arbeit zu fahren. Es ist nicht weit, nur ein paar Stationen, aber ich bin schon wieder so spät dran. Jeden Tag will ich zu Fuß zur Arbeit gehen und schaffe es dann nicht. Es ist nicht nur das grauenhaft frühe Aufstehen, das mich schwächt, sondern auch der Gedanke an das stundenlange Sitzen in einem Büro, das immer nach altem Senf riecht, egal wie lange ich lüfte. Und diese Akten, ein Blätterteig, es bedrückt mich immer, darin zu lesen. Das Schlimmste ist aber, dass die Kolleginnen, die alle schon jahrelang dort arbeiten, so zufrieden sind. Sie sind eingerastet wie Puzzleteilchen, und haben kein weiteres Bestreben, als genau an der Stelle zu bleiben.
Es ist ein grauer Tag, feuchtkalt, an der Straßenbahnhaltestelle haben alle Leute missmutige Gesichter. Ich wahrscheinlich auch. Die Bahn kommt, alle machen sich zum Einstieg bereit. Autos hupen, Bremsen quietschen, und ich sehe mein Bett in flottem Trab bei Rot über die Ampel laufen. Es hat sich offensichtlich befreien können und auch Fortschritte beim Gehen gemacht. Trotzdem wird es mich nicht mehr einholen können, denn ich bin schon in der Straßenbahn.
Ein donnerndes Geräusch lässt mich umdrehen. Das Bett galoppiert! Die Bettdecke schwankt beträchtlich und meine Wärmflasche rutscht heraus und klatscht auf die Straße. Die Wärmflasche, die Rosi mir zum Geburtstag geschenkt hat, mit einem selbst gefilzten Überzug in Regenbogenfarben. Rosi wohnt ganz in der Nähe. Was wird sie von mir denken, wenn sie ihr liebevolles Geschenk auf der Straße liegen sieht, womöglich von einem Auto zerquetscht.