Bruder

Wil­de Wol­ken zer­fet­zen den Him­mel, Sturm­wind treibt und wir­belt, kein Platz für mei­ne Trau­rig­keit, der Wind reißt alles mit, Blät­ter, Zwei­ge, lose Zie­gel, fest­ge­hal­te­ne Gedan­ken … mei­ne Bett­de­cke wird hoch geho­ben und weg geris­sen. Ich bleib zit­ternd lie­gen, schau zum Him­mel, da fliegt sie, mei­ne Decke mit dem roten Bezug, der mir der liebs­te war.
Ver­stört mach ich mich auf, sie zu suchen, mei­ne Bett­de­cke, und da hängt sie, im Weiß­dorn, ein paar Gär­ten wei­ter. Die alte Frau am Fens­ter schaut mir zu, wie ich die Decke her­un­ter hole, der Bezug bleibt an den Dor­nen hän­gen, reißt ein. “Ja, so war ich auch ein­mal”, sagt sie, “möch­test du einen Tee?“
Ich möch­te kei­nen, will nur nach Hau­se. Ich schütt­le den Kopf, wen­de mich zum Gehen, aber jetzt bre­chen die Wol­ken, es gießt und hagelt auf mich ein, ich flüch­te ins Haus. Vier Stu­fen hoch, ihre Woh­nungs­tür steht offen, vom Flur geht’s gleich in ein Wohn­zim­mer, in der Mit­te ein Holz­ofen. “Setz dich”, sagt die Frau, Sepia stand auf dem Klin­gel­schild. Sie deu­tet auf einen Ses­sel, der zwei­te ist schon besetzt, mit einem alten Mann, “Mein Bru­der”, stellt sie ihn vor.
Er sagt: “Guten Tag”, ich nicke ihm zu, ver­su­che freund­lich zu sein, star­re ihn aber böse an. Sie sind so ver­traut mit­ein­an­der, die bei­den Alten, und mir steht die Ver­gan­gen­heit bis zur Keh­le, ich muss hier wie­der raus, und wer­de von Frau Sepia in den Ses­sel gedrückt. “Ich hol den Tee”, sagt sie, durchs offe­ne Fens­ter sprin­gen nas­se Kat­zen, fau­chen, strei­ten sich um das Kis­sen am Ofen. Ich pres­se mei­ne Bett­de­cke eng an mich.
“Was ist mit dir”, fragt Frau Sepia, als sie ein Tablett mit Tee und Kek­sen auf das klei­ne Tisch­chen neben mich stellt. Ich wei­ne. Der Bru­der zieht ein grün­ka­rier­tes Taschen­tuch aus sei­ner Brust­ta­sche und reicht es mir. Die Frau setzt sich auf das Sofa und schaut zum Fens­ter hin­aus, der Sturm trägt her­ein, was er so fin­det, Blu­men­köp­fe, Staub, schep­pern­de Plas­tik­löf­fel, einen gro­ßen schwar­zen Vogel, zer­zaust, der Schna­bel blut­rot.
“Nichts für dich dabei?”, fragt sie. Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht, stre­cke die Hand aus, der Vogel hüpft auf mei­nen Unter­arm, legt den Kopf schief, um mich zu beäu­gen. “Mein Bru­der hat sich gegen mich ent­schie­den”, sage ich. “Vor zwan­zig Jahren.”

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Borsten

weißes Lamm kuschelt sich am Boden, schwarzes Lamm steht und guckt widerborstig

Ich habe eine schö­ne Woh­nung. Pro­ble­ma­tisch ist nur der Weg dort­hin. Das Trep­pen­haus. Genau­er gesagt, eine Tür im Trep­pen­haus. Auch heu­te pas­siert es wie­der. Ich bin schon dar­an vor­bei, als die Tür auf­geht. Her­aus guckt Frau Bes­te und fragt: “Ist das ihr T Shirt, was da unten auf der Lei­ne hängt?” “Nein”, sage ich, und damit könn­te das Gespräch been­det sein, aber es war erst der Anfang. “Es hängt schon seit drei Wochen da”, sagt sie ankla­gend.
Ich erklä­re lang­sam und deut­lich: “Das ist nicht mein T Shirt.” “Kom­men Sie mal mit!” Schon ist sie auf dem Weg in den Kel­ler. Ich blei­be ste­hen. Das ist nicht mein Pro­blem, sage ich mir und weiß schon, dass es nicht stimmt. Kur­ze Zeit spä­ter ste­he ich neben Frau Bes­te im Wäsche­kel­ler und sie hält mir das T Shirt unter die Nase: “Sehen Sie sich das mal genau an!“
Das T Shirt ist grau. Wenn ich mir einer Sache ganz sicher bin, dann der, dass ich mir noch nie in mei­nem Leben ein grau­es T‑Shirt gekauft habe. Auch geschenkt wür­de ich es nicht neh­men. Die Sache ist also ein­deu­tig. Ich sage: “Das ist nicht meins.” Aber ich wer­de nicht ent­las­sen. “Man­che Sachen ver­lie­ren ihre Far­be in der Wäsche”, legt mir Frau Bes­te als Erklä­rung nahe. “Grau­schlei­er”, sagt sie noch hilf­reich. Ich weiß nicht, wie vie­le Jah­re lang ich mei­ne T Shirts unun­ter­bro­chen waschen müss­te, damit sie so einen Grau­schlei­er bekom­men. Außer­dem hat das T Shirt klei­ne Rüschen am Saum. Wenn ich etwas nicht lei­den kann, dann sind es Rüschen an mei­nen Klei­dungs­stü­cken.
Ich schütt­le den Kopf. “Alle ande­ren im Haus habe ich schon befragt”, sagt Frau Bes­te, “es kann also nur Ihr T‑Shirt sein.” Sie strahlt mich an, wes­halb es mir unge­recht vor­kommt, dass ich wütend bin. “Es tut mir Leid, sage ich, aber …” Frau Bes­te unter­bricht mich: “Das kann allen mal pas­sie­ren. Und ich mache es ja ger­ne. Irgend­je­mand muss sich um die Ord­nung im Haus küm­mern. Aber bit­te den­ken Sie dar­an, die Wäsche nach dem Trock­nen gleich abzu­neh­men. Wir alle brau­chen Platz, nicht wahr?“
Als ich wie­der nach oben gehe, habe ich das graue T‑Shirt in der Hand. Ich rede mir ein, dass das die bes­te Lösung war und dass es über­haupt nicht schlimm ist, die­ses T‑Shirt jetzt zu haben, aber in Wirk­lich­keit könn­te ich heu­len. War­um kann ich mich in so einer ein­fa­chen und ein­deu­ti­gen Ange­le­gen­heit nicht durchsetzen?

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Paket

oranger Tank mit grünem Schüssel-Hut unter Olivenbaum

“Sie haben ein Paket bekom­men”, ruft es von unten. Ich beu­ge mich über den Gelän­der­rand im vier­ten Stock: “Kom­men Sie ruhig hoch!” “Ich kann nicht”, ächzt der Post­bo­te. “Schon gar nicht ruhig.” Jetzt bin ich auch beun­ru­higt. Ich kann mich nicht erin­nern, etwas bestellt zu haben. Doch, fällt mir beim Hin­un­ter­lau­fen ein, ein Sta­tiv. Es soll­te aller­dings klapp­bar sein. Das Paket über­ragt den Post­bo­ten, der auch nicht gera­de klein ist, und jetzt einen hoch­ro­ten Kopf hat. “Allei­ne schaf­fe ich das nicht”, behaup­tet er, und tat­säch­lich ist die­ses Mons­ter­pa­ket so schwer, dass ich es nicht ein­mal anhe­ben kann. Ich hole den Nach­barn aus dem ers­ten Stock zu Hil­fe, der drei­mal die Woche ins Fit­ness­stu­dio geht und immer nach Her­aus­for­de­run­gen sucht. Er schleppt das Paket eine Trep­pe hoch, dann bleibt er keu­chend ste­hen und reibt sich sei­nen Rücken.
Zu dritt schaf­fen wir es schließ­lich. “Was haben Sie denn da bestellt?”, will der Nach­bar wis­sen. Das fra­ge ich mich auch. Habe ich schon wie­der etwas Fal­sches ange­klickt? Viel­leicht ist das Sta­tiv aus Guß­ei­sen. Oder da stand nicht “Sta­tiv”, son­dern “Sta­tue”. Nie wie­der über­mü­det Inter­net-Bestel­lun­gen machen, neh­me ich mir vor, als der Post­bo­te und der Nach­bar die Trep­pen hin­un­ter wan­ken.
Ich zwän­ge mich an dem Paket vor­bei, das jetzt einen beträcht­li­chen Teil des Ein­gangs­be­rei­ches ein­nimmt, und beschlie­ße, mir erst­mal einen Cap­puc­ci­no zu machen. Da weiß ich noch nicht, dass dies das letz­te fried­li­che Kaf­fee­trin­ken in mei­ner Küche sein wird. Ich löff­le den Soja­milch­schaum mit einem Stück dunk­ler Scho­ko­la­de, schaue aus dem Fens­ter auf den ers­ten grü­nen Blät­ter­flaum an den Bäu­men, und sin­ne dar­über nach, war­um aus­ge­rech­net vor mei­nem Bal­kon eine Hain­bu­che steht, von der sich das Wort “hane­bü­chen” ablei­tet, was soviel wie absurd und abwe­gig bedeu­tet. Und dann höre ich Geräu­sche im Flur.

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Außerplanmäßig

Parallele rostige Röhren vor blauem Himmel in der Kurve

Ich bin auf dem Nach­hau­se­weg. Mein Zug hat Ver­spä­tung. Wäh­rend ich auf dem Bahn­steig ste­he und mir die Hän­de rei­be, die sich trotz Hand­schu­hen steif und kalt anfüh­len, wird der außer­plan­mä­ßi­ge Halt eines Zuges ange­sagt. Kur­ze Zeit spä­ter fährt er ein. Ein Freccia­ros­sa, ein roter Pfeil, aus Ita­li­en. Seit wann fah­ren die hier lang? Ams­ter­dam — Mona­co — Roma, steht an der Flan­ke des Zuges. Rom! Ich wer­de unru­hig beim Anblick die­ser roten Wag­gons. Die Frec­ce fah­ren nur inner­halb Ita­li­ens. Irgend­was stimmt da nicht. Und dann sehe ich es: da sit­ze ja ich, in die­sem Zug, natür­lich in ein Buch ver­tieft.
Nein, das kann doch nicht … mit einem Sprung bin ich am Zug, klop­fe ans Fens­ter. Ich da drin löse den Blick vom Buch, hebe den Kopf, und dann schaut sie, die ich ist, raus und unse­re Bli­cke begeg­nen sich. Der Zug rollt an, ich habe nicht die Kraft, neben­her zu lau­fen, einen Halt zu erzwin­gen, wenigs­tens zu schrei­en. Erschüt­tert blei­be ich zurück, ich hier auf dem Bahn­steig, wäh­rend mein ande­res Ich unter­wegs ist, nach Rom.
Denn da gibt es kei­ne Zwei­fel, sie, die ich ist, wird nicht in Mün­chen aus­stei­gen, sie fährt nach Rom, sie lebt dort. So wie ich es bei­na­he getan hät­te, vor ach so vie­len Jah­ren. Ich habe davon gehört, dass es Par­al­lel­uni­ver­sen gibt, in denen wir, wer auch immer das dann ist, die Leben leben, die auch mög­lich gewe­sen wären. Aber ich dach­te immer, dass die­se Uni­ver­sen eben par­al­lel zu unse­rem ver­wei­len wür­den, ohne Schnitt­punk­te.
Ist heu­te so eine Par­al­lel­welt auf die schie­fe Bahn gera­ten, oder hat die­ses ande­re Ich samt rotem Zug die Uni­ver­sen gewech­selt? Ich löse mich aus mei­ner Erstar­rung und stre­be einen Schaff­ner an. Er ist von einer Trau­be von Men­schen umringt, die er mit den Wor­ten “Ach­ten Sie auf die Zug­durch­sa­gen!” zurück lässt. Ich hef­te mich an sei­ne Fer­sen: “Sagen Sie bit­te, der Zug, der eben hier gehal­ten hat, wie lan­ge braucht der nach Rom?” Er wim­melt mich ab. “Der war außer­plan­mä­ßig hier. Über den kann ich kei­ne Aus­kunft geben.“
20 Stun­den min­des­tens, den­ke ich. Ich könn­te hin­flie­gen. Auf dem Bahn­hof war­ten, bis ich aus­stei­ge. Und mich ver­fol­gen, mir zugu­cken, wie ich in Rom lebe. Leben wür­de, wenn ich damals zu Loren­za gezo­gen wäre. Aber war­um? Außer­dem muss ich mor­gen arbei­ten. Ich bin doch zufrie­den mit mei­nem Leben. Und der Ent­schei­dung, die ich damals getrof­fen habe.
Wer weiß, wer das da im Zug war. Sie sah mir ähn­lich, mehr nicht. Par­al­lel­uni­ver­sen, falls es sie denn geben soll­te, haben wahr­schein­lich ande­res zu tun als aus­ge­rech­net mei­nen Weg zu kreu­zen. Die­se Aus­flüch­te hel­fen mir nicht. Ich weiß genau, dass ich im Zug war. Aber was mache ich, wenn ich in Rom fest­stel­le, dass das dort das Leben ist, das ich leben möch­te, und hier nur eine weni­ger geglück­te Par­al­le­le? Kann ich denn in ein ande­res Leben umzie­hen, will ich das über­haupt? Und was pas­siert dann mit mei­nem ande­ren Ich?
Rat­los blei­be ich auf dem Bahn­steig ste­hen und war­te auf Hin­wei­se, aber es kom­men kei­ne, es kommt nur mein Zug und ich stei­ge ein. Statt zu lesen suche ich in mei­nem Han­dy nach dem Freccia­ros­sa. Im deut­schen Netz fin­de ich ihn nicht, ich pro­bie­re es mit der ita­lie­ni­schen Gesell­schaft, Tre­ni­ta­lia. Kei­ner der Frec­ce fährt nach Ams­ter­dam.
Und kei­ne Schaff­ne­rin kommt, die ich fra­gen könn­te, nur eine Per­son mit Ser­vier­wa­gen, bei der ich ent­ge­gen mei­ner sons­ti­gen Gewohn­hei­ten einen Kaf­fee kau­fe. Als ich ihr das Geld gebe, fra­ge ich sie lei­se: “Wür­den Sie nach Rom zie­hen?” Sie lacht. “Da war ich erst ges­tern! Ich zieh ja dau­ernd rum.” Und dann zieht sie ihren Wagen wei­ter und ich bleib sit­zen mit einem Becher voll hell­brau­nem Was­ser, der mir die Hän­de wärmt und den ich dann, als ich aus­stei­ge, in einen Müll­ei­mer ver­sen­ke.
Ich könn­te mich für mor­gen krank mel­den, sin­nie­re ich auf dem Nach­hau­se­weg. Heu­te Abend um halb zehn geht noch ein Flug nach Rom. Was für eine Geld­ver­schwen­dung und Umwelt­ver­schmut­zung! Außer­dem hat sich die Stadt sicher ver­än­dert, ist vol­ler und lau­ter gewor­den, wie so vie­le Städ­te, die jetzt bil­lig ange­flo­gen wer­den kön­nen. Ich muss wahr­schein­lich nur einen Tag in Rom ver­brin­gen, um zu wis­sen, dass ich dort nicht woh­nen will. Und wenn nicht? Was ist, wenn ich tat­säch­lich mir begeg­ne in Rom, und wenn ich dort auch ein gutes Leben habe?
Wie­so habe ich auf ein­mal die­se Pro­ble­me und sol­che Fra­gen? Vor einer Stun­de habe ich mich nur über die Zug­ver­spä­tung geär­gert. Jetzt wün­sche ich mir die­sen klei­nen Ärger zurück anstatt der gro­ßen Ver­un­si­che­rung, die mich befal­len hat. Und Loren­za? Wenn ich sie dort tref­fe, in Rom, wenn wir gar ein Paar sind? Loren­za, mei­ne gro­ße Lie­be, die aber eine ande­re woll­te oder viel­leicht nur ihre Frei­heit, wer weiß.

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Zahnarzt

Schalter aus Metall mit langer Nase und zwei Kreuzschrauben-Augen

Bei einem mei­ner nächt­li­chen Spa­zier­gän­ge kom­me ich durch eine klei­ne Gas­se und bemer­ke an einer der Haus­tü­ren einen hand­ge­schrie­be­nen Zet­tel: “Dr. Puszka, Zahn­arzt. Bit­te drei mal klin­geln.” Ich drü­cke auf den Klin­gel­knopf, dann fällt mir die Uhr­zeit ein, ich zöge­re. Über mir geht ein Fens­ter auf und ein Kopf streckt sich raus, eine weiß geklei­de­te Gestalt: “Möch­ten Sie zu mir?” “Sind Sie der Zahn­arzt?” “Ja. Ich hab zwar schon Fei­er­abend, aber ande­rer­seits kann ich sowie­so nicht schla­fen.” “Genau wie ich!“
Ich gehe eine knar­ren­de Wen­del­trep­pe hoch, und oben durch die offe­ne Tür in einen hell erleuch­te­ten Flur. “Guten Abend!”, begrüßt mich Dr. Puszka. “Sie kön­nen Ihre Jacke dort­hin hän­gen.” Er deu­tet ans ande­re Ende des Flurs. “Für die Haf­tung der Gar­de­ro­be gibt es kei­ne Gewähr­leis­tung”, fügt er hin­zu, und ich den­ke, dass etwas an dem Satz nicht stimmt. Dann sehe ich das Brett mit den Haken, die nur unzu­rei­chend befes­tigt sind und mich an wacke­li­ge Zäh­ne den­ken las­sen, viel­leicht weil über ihnen, auf einem Pla­kat, Werk­zeu­ge der Zahn­me­di­zin abge­bil­det sind. Vor­sich­tig hän­ge ich mei­ne Jacke auf, der Haken, den ich gewählt habe, hält.
“Möch­ten Sie Tee?” Dr. Puszka deu­tet auf eine klei­ne Nische mit Küchen­zei­le. Ich nicke, er stellt den Was­ser­ko­cher an. “Wo tut’s denn weh?”, fragt er mich. “Ich habe kei­ne Zahn­schmer­zen.” Erstaunt lässt er die Tee­kan­ne sin­ken. “Selt­sam”, meint er, und dann fängt er an zu wei­nen. Ich gebe ihm mein ein­zi­ges unbe­nutz­tes Taschen­tuch, es ist sofort durch­nässt. Danach nimmt er die Küchen­rol­le. Blatt für Blatt wird nass von sei­nen Trä­nen, und fällt zusam­men­ge­knüllt zu Boden. Ich wür­de am liebs­ten wie­der gehen, aber er steht zwi­schen mir und dem Aus­gang, und so war­te ich, ziem­lich beun­ru­higt, bis er die hal­be Küchen­rol­le ver­braucht hat, und sich so weit gefasst hat, dass er spre­chen kann. Er schluchzt: “Sie sind seit Jah­ren der ers­te Mensch ohne Zahn­schmer­zen, der mich besu­chen kommt.” Dann weint er wie­der, so lan­ge, bis kein Blatt mehr an der Küchen­rol­le dran ist, nur die nack­te graue Röh­re hängt noch an der Hal­te­rung.
“Ich mache uns jetzt einen Beru­hi­gungs­tee”, sagt er, “und dann set­zen wir uns gemüt­lich ins War­te­zim­mer.” Ein Beru­hi­gungs­tee ist jetzt auch für mich genau das Rich­ti­ge, und das War­te­zim­mer ist tat­säch­lich gemüt­lich, ein klei­ner Raum mit vier Ses­seln, einem nied­ri­gen Tisch und einer Spiel­ecke; auf der moos­grü­nen Tape­te flie­gen Fle­der­mäu­se. “Ent­schul­di­gen Sie”, sagt Dok­tor Puszka, als wir uns gesetzt haben und er den Tee ein­schenkt. “Das ist ja wirk­lich sehr trau­rig”, mei­ne ich und er nickt: “Die­se Zustän­de! Und dabei woll­te ich gar kein Zahn­arzt wer­den.”
“Wie ist das denn pas­siert?”, fra­ge ich. Er sieht eigent­lich ganz sym­pa­thisch aus, der Dr. Puszka, jetzt, nach­dem er auf­ge­hört hat zu wei­nen, und nur noch sei­ne geschwol­le­nen Augen und die rote Nase dar­an erinnern.“Interessiert Sie das?”, fragt er mich erstaunt. “Ja.” Er lächelt ein biss­chen. “Ich war bei einer Berufs­be­ra­te­rin. Und dort habe ich etwas erzählt, was ich noch nie vor­her und nie mehr danach erzählt habe. Ich hat­te näm­lich einen heim­li­chen Wunsch.” Er sieht jetzt wie­der sehr trau­rig aus.
“Und was war das für ein Wunsch, wenn ich fra­gen darf?” “Ich habe ihr gesagt, dass ich mich für Höh­len inter­es­sie­re. Und war mir sicher, dass sie mir dann rät, Höh­len­for­scher zu wer­den. Statt­des­sen sag­te sie: “Die fas­zi­nie­rends­te Höh­le ist die Mund­höh­le. Wer­den Sie Zahnarzt!”

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Eifersucht

3 orange Warnlampen auf blauem Sockel in Spannung zueinanderAls ich am Frei­tag­abend nach Hau­se kom­me, sitzt vor mei­ner Woh­nungs­tür eine Kat­ze. Ich blei­be auf der Trep­pe ste­hen und wed­le mit den Hän­den, um das Tier zu ver­scheu­chen. Sie bleibt sit­zen und schaut mich an. Grü­ne Augen.
Ich kling­le beim Nach­barn gegen­über. “Wis­sen Sie, zu wem die­se Kat­ze gehört?”, fra­ge ich ihn, als er öff­net und mich über­rascht ansieht. Ich habe noch nie bei ihm geklin­gelt. “Die ist von unten”, sagt er und deu­tet einen Stock tie­fer. “Die Kat­ze von unten ist rot­haa­rig”, gebe ich zu beden­ken, “und hat sehr lan­ges Fell, wäh­rend die­se hier …”, ich zöge­re, etwas zu beschrei­ben, was er ja selbst sieht, aber viel­leicht sieht er etwas ande­res als ich, “wäh­rend die­se hier schwarz und kurz­haa­rig ist.“
Der Nach­bar zuckt mit den Ach­seln, als wären Fri­su­ren und Haar­far­ben kei­ne nen­nens­wer­ten Kri­te­ri­en. Er selbst hat auch nichts der­glei­chen auf dem Kopf. “Und jetzt?”, fra­ge ich ihn, in der Hoff­nung, dass er sich zustän­dig fühlt. “Was machen wir mit der Kat­ze?” Ich ver­knei­fe es mir, zu erwäh­nen, dass sie sich schließ­lich mit sei­ner Glat­ze reimt. Er zieht die Stirn in Fal­ten und sieht die Kat­ze, die ihre Kral­len an mei­nem Tür­vor­le­ger schärft, nach­denk­lich an. “Ich bin gegen Tier­leid”, sagt er dann und ver­schwin­det mit einem knap­pen “Guten Abend”.
Ich star­re die geschlos­se­ne Tür an. Ich bin auch gegen Tier­leid. Aber, was bedeu­tet das in die­sem kon­kre­ten Fall? Weil mir nichts ande­res ein­fällt, schlie­ße ich mei­ne Tür auf. Ganz selbst­ver­ständ­lich kommt die Kat­ze mit rein. “Ich hab aber nichts zu essen für dich”, sage ich. Sie schnurrt und fin­det den Weg in die Küche allei­ne.
Wenig spä­ter bin ich auf dem Weg zum Super­markt. Ich ver­wei­le in der Haus­tier­ab­tei­lung, die ich bis jetzt immer mit einem über­le­ge­nen Lächeln gemie­den habe. Das Ange­bot an Kat­zen­fut­ter ist über­wäl­ti­gend. Zum Glück weiß ich, seit einer Affä­re mit einer Super­markt­ver­käu­fe­rin, dass die bil­ligs­ten Pro­duk­te immer ganz unten ste­hen.
Zu Hau­se brei­te ich Zei­tungs­pa­pier auf dem Boden aus und stel­le die geöff­ne­te Dose dar­auf. Die Kat­ze schnup­pert, kos­tet, rümpft die Nase, schüt­telt die Pfo­te und miaut so ankla­gend, dass ich ein schlech­tes Gewis­sen bekom­me. So bil­li­ges Fut­ter ist bestimmt min­der­wer­tig und ent­hält schäd­li­che Zusatz­stof­fe. Gut, dass ich die Schu­he noch nicht aus­ge­zo­gen habe.
Als ich spä­ter erschöpft und hung­rig auf dem Sofa sit­ze und dar­über nach­den­ke, wie ich die­ses Tier am schnells­ten wie­der los wer­de, kommt sie zu mir und schmiegt sich an mich. Mein Herz wird weich. Ich esse ja auch nicht alles. Ich streich­le die Kat­ze und bemer­ke einen klei­nen wei­ßen Halb­mond auf ihrer Brust. Selí­na, sage ich zu ihr, vom grie­chi­schen σελήνη für Mond, und sie sieht mich an, als ob ich ihren Namen erra­ten hät­te.
“Brau­chen wir nur noch einen Schlaf­platz für dich”, sage ich spä­ter zu ihr und wun­de­re mich schon gar nicht mehr dar­über, dass ich mit einer Kat­ze spre­che. Selí­na löst die­ses Pro­blem ohne viel Feder­le­sens, indem sie es sich in mei­nem Bett bequem macht. “Ein Feh­ler”, sagt Fio­na, als ich ihr am nächs­ten Tag davon erzäh­le. “Du musst ihr Gren­zen zei­gen. Und du darfst dich nicht an sie gewöh­nen. Wer weiß, wo sie hin gehört.“
Aber Seli­na bleibt das gan­ze Wochen­en­de. Am Mon­tag besor­ge ich eine Kat­zen­lei­ter für den Bal­kon und reak­ti­vie­re die Kat­zen­klap­pe in der Bal­kon­tür, die die Vor­mie­te­rin ange­bracht hat. “Pro­bier mal”, sage ich, und Selí­na läuft ele­gant die Lei­ter hin­un­ter, fin­det flugs ein Loch im Gar­ten­zaun und ver­schwin­det zwi­schen den Buchs­baum­bü­schen des Nach­bar­gar­tens.
Fio­na ruft an: “Viel­leicht sind die Leu­te, bei denen sie gewohnt hat, umge­zo­gen. Kat­zen lau­fen oft zum alten Haus zurück und sind dann ver­wirrt, weil sie nicht mehr rein kom­men. Du musst Zet­tel auf­hän­gen: “Kat­ze zuge­lau­fen.” Sie kommt sogar vor­bei und hilft mir, den Text zu ver­fas­sen und mei­ne Tele­fon­num­mer mehr­mals quer dazu zu plat­zie­ren. Nach dem Aus­dru­cken tren­nen wir die Num­mern mit der Sche­re von­ein­an­der, sodass sie ein­zeln abge­ris­sen wer­den kön­nen. Die Sche­ren­schnit­te gehen mir ans Herz.
Gemein­sam fah­ren wir durch die Stra­ßen und kle­ben den Hin­weis auf Ampel­stan­gen und Stra­ßen­la­ter­nen. Mit jedem gekleb­ten Zet­tel wer­de ich trüb­sin­ni­ger, wäh­rend Fio­na am Ende sehr zufrie­den ist. “Jetzt hast du alles getan, um die recht­mä­ßi­gen Besitzer*innen zu infor­mie­ren.”
“Ich fin­de es unmo­ra­lisch”, kei­fe ich sie an, “bei einer Kat­ze von recht­mä­ßi­gen Besitzer*innen zu spre­chen.” “Was ist denn in dich gefah­ren?”, fragt sie mich erstaunt. “Ich bin gegen Tier­leid”, wer­fe ich ihr an den Kopf und rad­le davon. Zu Hau­se tut es mir Leid, ich schi­cke ihr eine ver­söhn­li­che Tele­gram-Nach­richt. Sie geht sofort dar­auf ein — ach, lie­be Fio­na-Freun­din, den­ke ich — und wünscht mir eine gute Nacht.
Ich habe aber kei­ne. Ich kann nicht schla­fen. Selí­na ist nicht zurück gekehrt und ich stel­le mir vor, wie sie durch die Stra­ßen läuft, und über­all die­se Zet­tel sieht, mit denen ich sie los­wer­den möchte.

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Bett

Niedrige Fahrradständer, blau, Farbe blättert ab, darunter erscheint rot, im Herbstlaub mit grünem Gras

Früh­mor­gens, auf dem Weg zur Arbeit, gehe ich durch eine men­schen­lee­re Stra­ße, als ich auf ein­mal hin­ter mir ein unge­wohn­tes Kla­cken höre. Ich dre­he mich um und da stakst, wie ein brei­ter fla­cher Hund, mein Bett. Ich bin ent­setzt, es hier auf der Stra­ße zu sehen, noch dazu in die­sem Zustand. Ich habe es heu­te mor­gen nicht gemacht und jetzt ist es mir pein­lich, dass es mit die­ser zer­wühl­ten Bett­de­cke her­um­läuft.
“Was willst du hier”, zische ich, “geh nach Hau­se!” Stur kommt es immer wei­ter auf mich zu getrot­tet, unbe­hol­fen, weil es Schwie­rig­kei­ten damit hat, die vier Bei­ne zu koor­di­nie­ren. Es schwankt von einer Sei­te zur ande­ren, manch­mal hebt es auch drei Bei­ne auf ein­mal und das vier­te, auf dem dann alles las­tet, knarrt bedenk­lich.
“Lass den Blöd­sinn! Du siehst doch, dass du nicht weit damit kommst!” Das Bett hört nicht auf mich, womög­lich ist es auch gar nicht hör­fä­hig. Ich mache abweh­ren­de Ges­ten, ohne dass das die gewünsch­te Wir­kung zei­gen wür­de. Unbe­irrt pro­biert das Bett wei­te­re Gang­ar­ten aus und kommt dabei immer näher auf mich zu.
Ich habe die­ses Bett vor ein paar Mona­ten gekauft, als ich Arbeit in einem Büro bekom­men habe und dach­te, zu einem geho­be­nen Lebens­stan­dard wür­de auch gehö­ren, die Matrat­ze statt auf den Boden auf ein Gestell zu legen. Ich wuss­te ja nicht, was ich mir damit ein­bro­cke. Im Geschäft sah es aus wie ein ganz nor­ma­les Bett. Es war aller­dings stark redu­ziert. Ich habe nicht nach dem Grund gefragt, was ich jetzt bereue. Eigent­lich müss­te noch Garan­tie drauf sein. Nur kann ich die­se wahr­schein­lich nicht bean­spru­chen, wenn das Bett im Gul­li hän­gen bleibt und sich dabei ein Bein bricht.
Ich muss jetzt zur Arbeit. Ich habe kei­ne Zeit für Eska­pa­den. Soll das Bett doch im Stra­ßen­gra­ben enden, wenn es unbe­dingt auf sol­chen Ver­rückt­hei­ten besteht. Ich eile wei­ter. Bevor ich abbie­ge, dre­he ich mich noch ein­mal um und sehe, dass mein Bett zwi­schen der Haus­wand und einer Stra­ßen­la­ter­ne ste­cken geblie­ben ist. Okay, dann wer­de ich es heu­te Abend dort abho­len. Ich hof­fe, ich muss kei­ne Gebüh­ren fürs Falsch­par­ken bezah­len.
Ich beschlie­ße, mit der Stra­ßen­bahn zur Arbeit zu fah­ren. Es ist nicht weit, nur ein paar Sta­tio­nen, aber ich bin schon wie­der so spät dran. Jeden Tag will ich zu Fuß zur Arbeit gehen und schaf­fe es dann nicht. Es ist nicht nur das grau­en­haft frü­he Auf­ste­hen, das mich schwächt, son­dern auch der Gedan­ke an das stun­den­lan­ge Sit­zen in einem Büro, das immer nach altem Senf riecht, egal wie lan­ge ich lüf­te. Und die­se Akten, ein Blät­ter­teig, es bedrückt mich immer, dar­in zu lesen. Das Schlimms­te ist aber, dass die Kol­le­gin­nen, die alle schon jah­re­lang dort arbei­ten, so zufrie­den sind. Sie sind ein­ge­ras­tet wie Puz­zle­teil­chen, und haben kein wei­te­res Bestre­ben, als genau an der Stel­le zu blei­ben.
Es ist ein grau­er Tag, feucht­kalt, an der Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le haben alle Leu­te miss­mu­ti­ge Gesich­ter. Ich wahr­schein­lich auch. Die Bahn kommt, alle machen sich zum Ein­stieg bereit. Autos hupen, Brem­sen quiet­schen, und ich sehe mein Bett in flot­tem Trab bei Rot über die Ampel lau­fen. Es hat sich offen­sicht­lich befrei­en kön­nen und auch Fort­schrit­te beim Gehen gemacht. Trotz­dem wird es mich nicht mehr ein­ho­len kön­nen, denn ich bin schon in der Stra­ßen­bahn.
Ein don­nern­des Geräusch lässt mich umdre­hen. Das Bett galop­piert! Die Bett­de­cke schwankt beträcht­lich und mei­ne Wärm­fla­sche rutscht her­aus und klatscht auf die Stra­ße. Die Wärm­fla­sche, die Rosi mir zum Geburts­tag geschenkt hat, mit einem selbst gefilz­ten Über­zug in Regen­bo­gen­far­ben. Rosi wohnt ganz in der Nähe. Was wird sie von mir den­ken, wenn sie ihr lie­be­vol­les Geschenk auf der Stra­ße lie­gen sieht, womög­lich von einem Auto zerquetscht.

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