Briefkasten

Distelkopf mit schwarzem Auge

Das Tier, das in mei­nem Brief­kas­ten wohnt, ist nicht oft zu Hau­se. Ich habe es nur ein­mal gese­hen. Als ich den Brief­kas­ten auf­ge­macht habe, ist es durch den Brief­schlitz nach drau­ßen gehuscht: grau­brau­nes Fell, kur­zer brei­ter Schwanz. An mei­nen Brie­fen sind jetzt häu­fig die Ecken abge­bis­sen und auf der Zei­tung klebt Schleim. Ich rege mich nicht sehr dar­über auf, ich bekom­me fast nur Rech­nun­gen, und die Zah­len sind gut zu lesen, trotz der Biss-Spu­ren. Der Schleim sieht eke­lig aus, ist aber durch­sich­tig, sodass ich die Zei­tung trotz­dem lesen kann.
Eines Tages bekom­me ich eine Bücher­sen­dung und vom Kar­ton ist ein gro­ßes Stück abge­bis­sen. Erst da kommt mir der Gedan­ke, dass das Tier mir gefähr­lich wer­den könn­te. Ich set­ze jetzt immer einen Helm auf, bevor ich den Brief­kas­ten öffne.

Einen alten Motor­rad­helm, an dem ich das Visier her­un­ter klap­pen kann. Ich mache ich das nachts, wenn nie­mand sonst mehr unter­wegs ist. Ich möch­te nicht so ger­ne mit dem Helm gese­hen wer­den.
Ich war­te also jeden Abend, bis alle ande­ren schla­fen gegan­gen sind, und manch­mal wer­de ich ziem­lich müde dabei, und fin­de es unge­recht, dass ich so lan­ge war­ten muss, bis ich an mei­ne Post kom­me, und da beginnt so ein klei­ner Groll auf das Tier. Die­ser Groll ver­stärkt sich, als das Tier zu sam­meln beginnt. Im Brief­kas­ten häuft sich das Laub, ein paar Mün­zen kom­men dazu, ein gekau­ter und fest gewor­de­ner Kau­gum­mi und eines Tages eine Zahn­pro­the­se.
Am nächs­ten Mor­gen tref­fe ich Herrn Sowas aus dem zwei­ten Stock, und mir kommt es so vor, als hät­te er ein ein­ge­fal­le­nes Gesicht, aber ich kann ihn ja nicht fra­gen, ob ihm sei­ne Zahn­pro­the­se fehlt, damit wür­de ich mich ver­däch­tig machen. Ich möch­te nicht ver­däch­tig sein, ich möch­te am liebs­ten ein unbe­schwer­tes Ver­hält­nis zu mei­nen Nachbar*innen haben.
Wenn ich dabei ertappt wer­de, wie ich mei­nen Brief­kas­ten auf­ma­che, mit dem Helm auf dem Kopf und der Zahn­pro­the­se im Kas­ten, und dann sage, da wohnt ein Tier, dann könn­te das selt­sam wir­ken auf die ande­ren Leu­te im Haus, die so etwas viel­leicht noch nie erlebt haben. Des­halb war­te ich jetzt noch län­ger, bis ich mich an mei­nen Brief­kas­ten traue, und ich wer­de immer müder, und eines Nachts packt mich plötz­lich eine wil­de Wut auf das Tier und ich den­ke: Jetzt ist Schluss damit! Ich wer­fe jetzt alles raus und stel­le eine Mäu­se­fal­le auf!
Ich rei­ße den Brief­kas­ten auf und will als ers­tes den Laub­hau­fen packen, da sehe ich die Ver­tie­fung, die sich dar­in gebil­det hat, weil das Tier wohl da geschla­fen hat, und als ich die­se Kuh­le sehe, dre­hen sich mei­ne Gefüh­le kom­plett um und mir kom­men Trä­nen der Rüh­rung.
Ich habe ja kei­ne Kin­der, aber plötz­lich weiß ich, was Eltern emp­fin­den, wenn sie das Kind in der Wie­ge lie­gen sehen. Ich sehe zwar nur die Spu­ren, die das schla­fen­de Tier hin­ter­las­sen hat, das Bett, in das es sich geschmiegt hat, aber das allein löst so eine Zärt­lich­keit bei mir aus, so eine Lie­be, die sich ganz über die­ses unbe­kann­te Wesen stül­pen möch­te, und dann habe ich eine Idee.
Am nächs­ten Tag gehe ich in den Spiel­zeug­la­den und kau­fe ein und in der dar­auf fol­gen­den Nacht räu­me ich den Brief­kas­ten aus und put­ze ihn. Das Laub wer­fe ich weg, die Zahn­pro­the­se lege ich auf die Wasch­ma­schi­ne von Herrn Sowas, die Mün­zen schich­te ich zu einem Turm in der Ecke des Brief­kas­tens. Dann lege ich einen klei­nen gras­grü­nen Tep­pich aus und stel­le ein laub­brau­nes Sofa dar­auf mit Kis­sen und einer Decke in der­sel­ben Far­be, und an die Wand ein Bücher­re­gal mit win­zi­gen Büchern dar­in, zum Naschen. An die Decke kle­be ich einen Bewe­gungs­mel­der, der eine Infra­rot­ka­me­ra aus­löst.
Die­se neue Ein­rich­tung in mei­nem Brief­kas­ten macht mich so froh, dass ich inner­lich laut sin­ge. End­lich habe ich auch ein Haus­tier, und ich wer­de mir jetzt immer zum Früh­stück und zum Abend­essen anse­hen, wie es sich auf dem Sofa räkelt und an mei­nen Brie­fen knab­bert und dann unter die Decke kriecht und ein­schläft.
Ich schla­fe auf jeden Fall sehr gut, bin end­lich wie­der ent­spannt. Als ich am Mor­gen in den Kel­ler gehe, ist die Zahn­pro­the­se weg und spä­ter tref­fe ich Herrn Sowas und sein Gesicht sieht wie­der voll­stän­di­ger aus. Neu­gie­rig öff­ne ich mei­nen Brief­kas­ten, ohne Helm, jetzt ist das Tier ja mein Haus­tier, und es wird mei­ne guten Absich­ten erkannt haben. Aber es ist nicht da und die Brie­fe sind unbe­schä­digt, kein Schleim auf der Zei­tung, kein Laub, nichts. Auch die Kame­ra zeigt kein Tier, immer nur die Zei­tung, die durch den Schlitz fällt, und spä­ter die Brie­fe. Ich war­te tage- und wochen­lang, aber mein Tier kommt nie mehr wieder.