Sie steht ganz oben auf dem Küchenregal. Früher habe ich Kekse darin aufbewahrt, aber ich habe schon lange keine mehr gebacken. Eine etwas verbeulte Dose, rot, “Nürnberger Lebkuchen” steht darauf. Seit einiger Zeit muss ich die immer anstarren. Was ist mit dieser Dose?
Schließlich stelle ich mich auf den Tritt und hole sie herunter. Vorsichtig ziehe ich den Deckel ab. Was ist das? Lauter Trümmer! So viele Leichen, Verstümmelte und — das ist ja scheußlich! Das sieht aus wie — Wie kommt denn so was in meine Küche?
Schnell den Deckel drauf. Was mache ich jetzt damit? Ich muss es loswerden. Das kommt in die Mülltonne, beschließe ich. Morgen ist Abfuhrtag. Ja, weg damit! Jetzt sofort. Ich schnappe mir die Schlüssel, wickle ein Geschirrtuch um die Dose und trage das Päckchen in den Keller.
Im Treppenhaus treffe ich Frau Beste. Als ich “Guten Tag” sagen möchte, dringt ein dumpfer Schrei aus der Dose. “Was haben Sie denn da”?, fragt sie misstrauisch. “Nichts”, sage ich schnell, halte ihrem Blick aber nicht lange stand. “Das ist … Da ist … ich kann nichts dafür”, stottere ich, “aber ich glaube, da ist ein Genozid drin.” “Und wo wollen Sie damit hin?” Ich sage nichts, spüre, wie ich rot werde.
“Glauben Sie nicht, dass Sie das in die Mülltonne werfen können! Das ist Sondermüll! Da müssen Sie beim Recyclinghof anrufen, und nachfragen, wo das hin kann. Auf jeden Fall nicht in unseren Keller! Wir sind ein ordentliches Haus.” Ich schleiche mit meiner Dose die Treppe wieder hoch.
Beim Recyclinghof reagieren sie zurückhaltend. “Genozid? Wir sind hier nur für Pestizid zuständig. Außerdem, was meinen Sie damit? Wo gibt’s denn so was?” “Ich weiß auch nicht, wie der in meine Küche geraten ist!” “Sollten Sie womöglich notwendige Verteidigungsmaßnahmen als Völkermord bezeichnen, so müsste ich Sie wegen Verleumdung anzeigen.” “Da habe ich mich vielleicht falsch ausgedrückt … es ist nur wegen der vielen toten Kinder …” “Wenn es sich um Tote handelt, müssen Sie sich an den Friedhof wenden!” “Ah, gute Idee.”
Ich rufe aber nicht gleich beim Friedhof an. Das Gespräch hat mich erschöpft. Die Dose steht jetzt auf dem Küchentisch, noch immer in das Geschirrtuch gewickelt. Wie konnte sich so eine harmlose Nürnberger Lebkuchen Dose in einen Kriegsschauplatz verwandeln? Und warum ist dieser Völkermord ausgerechnet zu mir gekommen? Oder haben alle so eine Dose zu Hause?
Schließlich rufe ich beim größten Friedhof der Stadt an. “Ich habe ein … etwas ungewöhnliches Problem … also, ich habe hier mehrere Tote.” “Mehrere Tote?”, fragt die Frau entsetzt. “Ein Verkehrsunfall? Ich hab gar nichts in der Zeitung gelesen.” “In der Zeitung steht auch nicht so viel von diesen Toten. Es sind aber viele. Vor ein paar Monaten waren es 40.000. Danach haben sie, glaube ich, mit dem Zählen aufgehört.” “40.000? Sind Sie verrückt? Das sind viel zu viele für das Stadtgebiet Bremen.”
Zum ersten Mal muss ich daran denken, wo eigentlich diese ganzen Toten begraben sind. Das Land ist ja auch nicht viel größer als Bremen. Aber ich darf mich nicht ablenken lassen! “Sie sind sehr klein, diese Toten”, erkläre ich. “So klein, dass man sie kaum sieht. Sie passen in ein einziges Grab hinein, ein Kindergrab, ein Grab für ein Baby reicht, mehr Platz braucht es nicht.”
“Ja, aber der Grabstein wäre riesig”, gibt die Frau zu bedenken. “Selbst wenn Sie die 40.000 Namen winzig klein schreiben, bräuchten Sie die ganze Friedhofsmauer dafür. Und dann die Begräbnisse! Wenn zu jedem Begräbnis nur 25 Leute kommen, hätten wir hier schon eine Million Trauernde! Dafür sind wir überhaupt nicht ausgestattet. Diese Menge würde womöglich … Blumen zertrampeln, und noch mehr. Alles, was wir uns hier so schön aufgebaut haben, wäre in Gefahr. Und stellen Sie sich vor, wenn die alle zu weinen anfangen! Ganz Bremen würde von den Tränen überschwemmt werden.”
“Da brauchen Sie keine Angst zu haben”, beschwichtige ich sie. “Es wird niemand kommen. Die Angehörigen sind ja selbst alle tot. Und die, die noch überleben, die können gar nicht raus, aus ihrem … wie soll ich das nennen? Es ist ja kein Gefängnis, und Ghetto ist es auch keins, aber auf jeden Fall kommen sie nicht raus. Es wird vielleicht eine kleine Gruppe von Demonstrierenden geben, aber die wird von der Polizei so gut bewacht werden, dass keine einzige Blume zu Schaden kommt.”
“Demonstrierende?”, fragt die Friedhofsverwalterin, “das wird ja immer monströser! Außerdem, können Sie sich so ein Grab überhaupt leisten? Selbst wenn ich Ihnen einen großzügigen Rabatt gebe, hundert Euro pro Leiche müsste ich schon verlangen.” “Aber das kann ich unmöglich bezahlen!” “Tja, dann”, sagt die Frau zufrieden, “kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.”
In der Nacht schlafe ich schlecht. Ich kann die Bilder nicht vergessen, die ich in der Dose gesehen habe. Die verstümmelten Kinder. Die leeren, ausdruckslosen Gesichter derjenigen, die für den Tod vorgesehen sind. Die vom Hunger ausgezehrten Gestalten, die an andere schreckliche Bilder erinnern. Die Vertriebenen, die nirgendwo mehr einen ruhigen Platz finden können.
Ich muss mir auch eingestehen, dass ich schon lange weiß, dass es diese Dose gibt. Ich habe versucht, sie zu ignorieren, weg zu denken. Aber jetzt, wo ich sie geöffnet habe, kann ich das nicht mehr.
Am nächsten Morgen rufe ich Fiona an. “Du hast die falsche Dose”, meint sie, “du musst dir die andere angucken. Was da für ein Leid drin ist! Wer so eine Geschichte hat und jetzt schon wieder existenziell bedroht ist, muss sich anders verteidigen als wir, die wir hier ein ruhiges Leben haben.” Es sind ja aber im Moment die anderen, die existenziell bedroht sind.” “Eben, die ganze Situation ist sehr kompliziert.” “Aber wir könnten uns doch für Waffenstillstand einsetzen, Verhandlungen, medizinische Versorgung, garantierte Essenslieferungen … egal wie kompliziert eine .”
“Zu Verhandlungen ist die andere Seite ja gar nicht bereit. Die wollen nur vernichten. Und deshalb bleibt vielleicht gar keine andere Wahl als …” Sie zögert, dann fährt sie fort: “Was wissen wir schon davon! Wir legen unsere Maßstäbe an, und kommen dann zu falschen Schlussfolgerungen. Und dahinter liegt meistens versteckter Antisemitismus. Wir machen jetzt eine Gruppe dazu, möchtest du auch kommen?” “Äh …” Ich bin überrumpelt von der Wendung, die das Gespräch genommen hat.
“Es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen”, erklärt mir Fiona, “bevor wir uns zur Situation äußern.” “Also, ich finde es ganz richtig, sich mit dem eigenen Antisemitismus auseinanderzusetzen”, stelle ich klar, “nur fände ich es im Moment dringender …” “Ja, wieder einmal ist etwas anderes dringender”, sagt Fiona ungeduldig. “Irgendeine Ausrede gibt es immer.” “Ich komme”, schlage ich vor, “wenn es auch um antimuslimischen Rassismus geht, und um die jüdischen Stimmen für einen gerechten Frieden.” “Das ist auch eine Ablenkung.”
Wir schweigen eine Weile, dann sagt Fiona versöhnlich: “Kommst du mit zur Gedenkveranstaltung für den 7.Oktober?” Auch hier zögere ich. “Ich finde es schwierig, wenn es nur um den 7. Oktober geht, und nicht auch um all die Tage danach.” “Am 7. Oktober”, sagt Fiona, “sind Unschuldige getötet, vergewaltigt und verschleppt worden. Während alle Vergeltungsschläge den Terrorist*innen galten und Unschuldige nur versehentlich getötet worden sind. Für Terrorist*innen kannst du doch kein Gedenken ausrichten!”
“Ich möchte ja nicht den Terrorist*innen gedenken, sondern Raum schaffen für alle anderen …” “Da kannst du eben keine klare Linie ziehen, das ist das Problem.” “Ich bin gegen die Todesstrafe, auch bei Terrorist*innen.” Fiona schweigt. “Wenigstens für die Kinder könnten wir doch …” Ich breche ab, weil ich merke, dass ich Fiona verärgert habe. “Was willst du mir unterstellen? Glaubst du, für mich ist es nicht schlimm, dass so viele Kinder sterben müssen? Ich finde es abscheulich, dass sie als Schutzschilde benutzt werden!”
Das Telefonat scheint mir jetzt endgültig verfahren. “Lass uns ein andermal darüber weiter reden”, bitte ich Fiona erschöpft. Sie ist einverstanden, wir verabschieden uns und wissen, dass wir ein weitere Diskussion darüber vermeiden werden. Nach dem Telefonat ist mir eisig kalt. Meine Freundin Fiona, die mir so oft beigestanden hat, ist auf einmal weit weg. Vor kurzem haben wir noch zusammen demonstriert, “Asylrecht ist Menschenrecht”, stand auf ihrem Schild, und auf der Rückseite: “Menschenrecht gilt für alle Menschen!” Und jetzt teilt sie die Menschheit in Menschen und Terrorist*innen.
Wie viele solcher Gespräche hat es in Deutschland schon gegeben, zwischen Leuten, die vorher gemeinsam in politischen Gruppen gearbeitet haben und sich jetzt auf zwei Seiten eines tiefen Grabens wiederfinden? Wie viele linke Gruppen sind an dem Thema schon gescheitert und auseinander gebrochen oder haben es bewusst ausgeklammert, um weiter bestehen zu können? Es scheint mir auch kein Zufall zu sein, dass die eindeutig antisemitische Rechte von diesen Auseinandersetzungen nicht nur verschont bleibt sondern sogar in ihrem Windschatten aufblüht.
Und was mache ich da eigentlich? Ich finde einen Völkermord in meiner Küche, und das erste, was mir einfällt, ist die Mülltonne. Ich will es loswerden, dieses scheußliche Gefühl, dass da etwas Grauenhaftes passiert, und ich hilflos zugucken muss, und mich nicht traue, etwas zu sagen, weil ich weiß, wie es anderen ergangen ist, die das gewagt haben.
Das Telefon klingelt, es ist meine Schwester. “Was ist los mit dir?”, fragt sie gleich. “Du hörst dich so krank an.” “Ja, es geht mir nicht so gut. Schon seit längerem.” “Long Covid?” “Nein … Long Genozid.” “Ach das!” Sie seufzt. “Ich will nicht länger darüber schweigen”, bricht es plötzlich aus mir heraus. “Ich halte das nicht mehr aus.”
“Ja, es ist scheußlich”, meint sie. “Aber, du schaffst das schon! Du kannst sogar noch viel mehr aushalten. Denk an unsere Kindheit! Wenn uns da Gewalt angetan wurde, hatten wir doch auch niemanden, dem wir das erzählen konnten. Weißt du nicht mehr, was wir alles verschweigen mussten, und wie gut uns das gelungen ist?”
Ja, natürlich erinnere mich. Meine Dose war so schwer, dass ich immer Rückenschmerzen hatte, wenn ich sie mit zur Therapie genommen habe. “Außerdem”, fährt meine Schwester fort, “liegt das Schweigen bei uns in der Familie. Unsere Großeltern mussten auch zu Vielem schweigen; und wenn sie das nicht so gut gekonnt hätten, gäbe es uns wahrscheinlich gar nicht.”
“Ja schon, aber, ich wollte eigentlich … anders leben.” “Diesen Luxus gibt’s jetzt nicht mehr. Was willst du dich exponieren? Du ruinierst dir dein Leben, und das für nichts und wieder nichts, weil du keinen Krieg stoppen können wirst.”
Meine Schwester hat recht, aber ich finde das deprimierend. Ich habe mich immer für eine Person gehalten, die sich gegen Ungerechtigkeit empört, und die für Frieden und Waffenstillstand eintritt. Ich habe mir aber auch immer vorgestellt, dass ich dabei eine von vielen sein werde. Und jetzt sind es so wenige! Und es gibt kaum Raum für einen Austausch über verschiedene Positionen, und anscheinend so wenig Interesse an einer friedlichen Lösung für alle. Das Reden über den Krieg ist selbst zu einem Minenfeld geworden. Das macht mir Angst.
Ich stelle die Dose wieder ins Küchenregal, aber auf Sichthöhe. Da steht sie, und ich sehe sie jeden Tag an und frage mich: Was soll ich tun?