Film von Anne Frisius mit einem Gedicht von mir zum 80. Geburtstag meines Adoptivonkels Rudolf Frisius, Professor für Neue Musik
Streifzug durchs Rudiversum
Wer rudert so spät durch Nacht und Noten? Das ist der Rudi in geistigen Fluten
Koryphäe, Kosmopolit Konzepte Konzerte ein Maximum an Lexikon Kongresse Konklusionen Kollisionen mit Idioten Kondensator für konkrete Komponisten Mit einem Königreich an Zitaten
Was ist Klang? Ein leerer Eimer holterdipolter Die Treppe runter Spatzenschritte auf dem Blechdach Spatenstiche ins Styropor Makkaroni wenn sie brechen unter Tritten auf den Fliesen Das Gegenteil von Musik ist Musik
Rudi, Forelle der Vortragsreihe Mit Vorliebe für Zettel und Tonbänder Mit Radio Reden quer durch die Frequenzen Präsentiert er elegant Elektronische Lektionen Als schreibender Begleiter Von Geistern mit ähnlichem Siedepunkt Kagel Riedel Schnebel Rihm Obsession: Stockhausen
Wenn mein PC abstürzt und sich danach nicht mehr rührt, so wie jetzt, ausgerechnet als ich endlich meine Steuererklärung machen will, dann bleibe ich ganz ruhig. Ich habe ja Philo. Den rufe ich an, der kommt innerhalb von zwei Tagen, hockt sich vor das Gerät und bleibt so lange, bis es repariert ist. Wenn’s länger dauert, legt er sich zwischendurch auf’s Sofa. Seine langen Beine ragen dann einen halben Meter über die Armlehne hinaus, und er kann in dieser Position erstaunlich gut schlafen. Aber Philo hat sein Handy ausgeschaltet. Das ist noch nie passiert. Was ist los mit ihm? Ich hoffe, er macht keine digitale Diät. Ich weiß eigentlich nicht viel über ihn. Ich habe ihn kennengelernt, als sein Ladekabel den letzten Halt in der Jackentasche verlor und auf die Straße fiel. Ich hob es auf und rief ihm nach. Er sah mich erst misstrauisch an, aber als er sein Kabel erkannte, lächelte er. “Danke!” Er holte aus seinem Portemonnaie eine Visitenkarte und drückte sie mir in die Hand. “Linux”, stand darauf, und eine Handynummer. “Äh, heißt du so?” “Leider nicht”, meinte er. Als er dann das erste Mal da war, habe ich ihn nach seinem Namen gefragt. Er seufzte. “Philo. Meine Eltern hatten ein Rendevouz im Botanischen Garten. Und unter dem Philodendron haben sie sich das erste Mal geküssst.” Er sah unglücklich aus. “Da kannst du ja froh sein, meinte ich, dass es nicht bei der Kamelie war. Oder beim Bambus. Dann hätten sie dich womöglich Bambi genannt.” Er sah mich erstaunt an. “Du hast es geschafft. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich für meinen Namen dankbar.“ Das war unser einziges richtiges Gespräch. Er macht mir einen besonders günstigen Preis, ich weiß aber nicht, ob wegen dem Kabel oder dem Namenshinweis. Die Visitenkarte habe ich noch. Auf der Rückseite steht eine Adresse. Ich beschließe, hinzufahren. Es ist eine kleine Straße, Sackgasse, die Nummer 37 ganz am Ende. Ein Wohnhaus aus roten Ziegelsteinen. Auf einem Klingelschild steht Linux. Ob das Philos Büro ist? Ich klingle und sofort ertönt ein Summton, mit dem sich die Haustür öffnet. Im dritten Stock steht Philo in der geöffneten Wohnungstür, im Pyjama. Es scheint ihm aber nicht peinlich zu sein. “Äh, Entschuldigung. Ich habe dich telefonisch nicht erreicht …” “Komm rein!” Ich folge ihm in die Küche. Auf dem Tisch liegen Bücher, Haarspangen, zwei Scharniere und eine Plastiktüte mit Reis. Eine Kerze brennt, daneben steht ein Kaffeebecher. Philo nimmt ihn und trinkt. “Willst du auch einen?“ Ich schüttle den Kopf, räuspere mich. “Sorry, dass ich dich störe. Ich wollte nur fragen, ob du meinen PC reparieren könntest.” Philo zuckt zusammen und sieht traurig aus. Er nimmt die Reistüte, hält sie vorsichtig wie ein Baby, kippt sie von einer Seite zur anderen. Der Reis rieselt, etwas Schwarzes kommt darunter zum Vorschein. “Wasserschaden. Es muss trocknen”, sagt er. “24 Stunden lang.” Er starrt betrübt auf die Tüte. “Dein Handy? Tut mir Leid.”
Es schlaucht. Dieser Ausdruck entstand wahrscheinlich in einer Bahnhofs-Unterführung. Von allen Bahnsteigen strömen Menschen die Treppen hinunter in den Schlauch hinein. Es ist eng und stickig, zu viele Gerüche, alle Fenster zeigen nur Geschäfte, keine Aussicht. Aber nach einer Zugfahrt gibt es keine andere Möglichkeit, als diesen trostlosen Ort zu durchqueren, um ins Freie zu kommen. Ich habe es fast bis zum Ausgang geschafft, als etwas Massives dröhnt und rattert und auf mich zu kommt. Es ist eine orange Maschine mit Bürstenfüßen — und mittendrin ein bekanntes Gesicht. Einen Moment später kann ich es zuordnen. Es gehört Mahmud aus dem Gartenverein. Wenn er oder seine Frau an meiner Parzelle vorbei kommen, unterhalten wir uns manchmal, über Schnecken, Hagebutten oder die beste Art, Kartoffeln zu setzen. Es ist nicht nur die ungewohnte Umgebung, die mir das Erkennen von Mahmud erschwert hat, sondern auch seine grellorange Kleidung und die Tatsache, dass er Teil einer Geräte-Kombination ist. Mahmud schiebt einen riesigen Staubsauber mit breiter Düse und rotierenden Bürsten an der Seite vor sich her und zieht einen Wagen, der brummt und zischt und eine feuchte Spur zurück lässt. Ich könnte jetzt einen Schneckenwitz machen, aber mir ist bei diesem Anblick nicht zum Lachen zumute. Mahmud und Aisha haben mir mal ihren Garten gezeigt. Und als ich das elegante Gartenhaus bewunderte, meinte er: “Selbst gebaut. Das ist mein Beruf. Aber leider, arbeiten kann ich nicht, als Tischler. Nicht anerkannt.” Stattdessen macht er so einen Job. Ich finde es traurig, und mir ist es unangenehm, so als ob ich ihn bei etwas Peinlichem erwischt hätte. Nicht, dass mir das fremd wäre. Ich habe auch schon Putzjobs gemacht. Aber nie so öffentlich. Ich überlege, ob ich so tun soll, als hätte ich ihn nicht gesehen, und finde mich beschämend. Im nächsten Moment entdeckt Mahmud mich und winkt mir: “Hallo!” Er stellt seine Maschine aus. Sie jault auf, schüttelt sich, bleibt schließlich stehen. “Gut dich zu sehen”, sagt er. “Kannst du mir einen Gefallen tun?” “Ja, gerne.” Ich bin erleichtert, dass ihm anscheinend nichts peinlich ist. “Ich muss dringend mit Aisha telefonieren. Hier unten hab ich keinen Empfang. Kannst du mich kurz vertreten?” Ich zögere, nicke aber. Er zieht schon seine Jacke aus, steigt aus der Vorrichtung, die ihn umfangen hält. “Die Jacke musst du anziehen, ist Pflicht. Rucksack kannst du hier unten rein tun. Du fährst einfach weiter, Gang entlang und zurück. Hauptsache, die Maschine bleibt nicht lange stehen, sonst kommt der Kontrolleur.” Schnell schlüpfe ich in die Jacke, und nehme Mahmuds Platz ein. Es gibt keine Möglichkeit, mich hinzusetzen, ich muss mitlaufen, und bin Teil des Antriebs. Ein bisschen mulmig ist mir schon zumute, als ich mir die Gurte umlege und die Halterungen schließe, bis ich fest eingebunden bin. Aber ich sage mir, dass es eine gute Gelegenheit ist, etwas für Mahmud zu tun. Er hat schließlich auch einmal bei mir Rasen gemäht, als ich ihm erzählt habe, dass ich einen Hexenschuss habe. “Fertig?”, fragt Mahmud. Ich nicke, und die Maschine beginnt zu vibrieren, es dröhnt und drängt vorwärts, ich werde mit geschoben und schon bin ich ein vorübergehender Cyborg. Und gefangen in der Unterführung. Ich versuche, mich nicht elend zu fühlen. Für eine Weile werde ich das wohl aushalten. Schließlich muss Mahmud das jeden Tag viele Stunden lang ertragen. Immerhin habe ich jetzt einen Schutzpanzer. Und eine ganz andere Perspektive. Es ist eine eigenartige Erfahrung. Ich bin so auffällig und bekomme keinerlei Beachtung. Die Leute weichen dem Putzgerät aus und sehen mich strikt nicht an. Ich bin quasi unsichtbar. Erst am Ende des Tunnels merke ich, dass ich nicht weiß, wie man diesen Putzomat wendet. Und den Ausstellknopf hat mir Mahmud auch nicht gezeigt. Womöglich muss ich weiter fahren, durch die automatische Schiebetür raus, am Taxistellplatz vorbei und dann über die Kreuzung. Wenn ich da bei Rot drüber fahre, kriege ich womöglich Punkte in Flensburg. Im letzten Moment finde ich einen Hebel und schere zur Seite aus. Diese ziemlich abrupte Bewegung findet nun doch Beachtung, weil ich einigen Leuten den Weg abschneide. Verärgerte Gesichter, Schimpfen über meinen Fahrstil. Ich bahne mir einen Weg quer zur Ausrichtung des Menschenstroms und versuche, wieder in eine Längsbahn einzuscheren. Da sehe ich sie und sie sieht mich: Nelly.
Ein grauer Hund, den ich gleich verdächtig finde, weil er das Gesicht einer Löwin hat, kriecht unter die Bank, auf der ich sitze, hebt sie an und geht mit ihr, und mir, davon. Halt!, rufe ich, stehenbleiben! Diese Bank hatte einen besonders schönen Standort, ein bisschen versteckt in den Heckenrosen. Genauso versteckt war ich, und jetzt werde ich nicht nur auf den Weg hinaus getragen, sondern auch den Blicken der Menschen frei gegeben, die im Park herum spazieren und wahrscheinlich froh sind, wenn sie an einem langweiligen Sonntag Nachmittag etwas geboten bekommen. Sie beachten mich aber gar nicht. Der Hund hört auch nicht auf mich, sondern trottet weiter, trägt mühelos mich und die Bank und schleift auch mein Fahrrad noch mit, das ich mit dem Vorderrad angeschlossen habe, weil ich manchmal auf Bänken, in der Sonne, einschlafe. Das Hinterrad liegt am Boden auf und dreht sich mit, der Lenker ragt über die Lehne. Ich klingle, um den Hund auf mich aufmerksam zu machen. Die Klingel scheint kaputt zu sein. Der Schlegel stößt zwar ans Gehäuse, vibriert, aber es ist nichts zu hören, stattdessen duftet es nach Thymian. Wahrscheinlich wächst hier welcher, denn der Hund ist vom Weg abgebogen und läuft jetzt zwischen langen Gräsern hindurch quer über die Wiese, deren Betreten streng verboten ist. Aber niemand regt sich auf und stoppt uns. Ich sitze weiter in dieser lächerlichen Position, auf einer hundegetragenen Bank, von der ich zwar abspringen könnte, und, im Nebenherlaufen, mit ein bisschen Geschicklichkeit, auch mein Fahrrad befreien würde, aber ich bleibe sitzen, weil an so einem Tag wie heute auch das noch schief gehen könnte. Eben dieses bisschen Geschicklichkeit scheint für mich gerade nicht abrufbar zu sein. Auch die Vorstellung, erzählen zu müssen, dass mein Fahrrad von einem Hund gestohlen wurde und damit Heiterkeit auszulösen, lässt mich auf der Bank verharren, während andererseits der Gedanke daran, dass ich mich aus dieser langsamen Entführung nicht befreien kann, mich noch zaghafter und ängstlicher macht. Jetzt nicht weinen, denke ich, aber schon laufen Tränen über meine Wangen. Ich schließe die Augen und hoffe, dass mich niemand so sieht und dass dieses graue Tier von alleine von seinem Vorhaben ablässt.
Meine Ohren sind schon wieder größer geworden. Ich betrachte mich lang im Spiegel, bevor ich mir eine Mütze überziehe. Falls ich einen Videoanruf bekomme. Dann nehme ich die Mütze wieder ab. Weil es verdächtig wirkt, bei diesen Temperaturen zu Hause eine Mütze aufzuhaben. Ich beschließe, keinen Videoanruf anzunehmen. Stattdessen rufe ich, mit meinem Festnetz-Telefon, Fiona an. “Darf ich dir ein Problem erzählen?” “Ich bin ganz Ohr”, sagt sie und ich zucke zusammen. “Ohren wachsen im Alter”, beruhigt mich Fiona, als ich ihr von meinen Befürchtungen erzählt habe, “mach dir da mal keinen Kopf drum.” Ich finde die Formulierung unsensibel. “Gerade der Kopf”, wende ich ein, “fühlt sich den Ohren sehr verbunden.” “Ich meine”, sagt Fiona, “dass du dir nicht so viele Sorgen um deine Ohren machen solltest.” Das sagt sie meistens, wenn ich ihr etwas erzähle. Mach dir keine Sorgen. Meistens hat sie auch recht, und ich muss zugeben, dass ich sie genau deshalb angerufen habe. Um diesen Satz zu hören. Aber sie hat auch gut reden. Sie hat ganz normale Ohren, die unauffällig am Kopf kleben, in Form bleiben und keinen Anlass geben, über sie nachzudenken oder sie gar zu vermessen. Ich habe gemessen. Das sage ich aber nicht. Ich bedanke mich und stelle das Telefon in die Ladestation, es klickt und ich frage mich, ob ich mit wachsenden Ohren vielleicht auch ein längeres Telefon brauche. Ich versuche, mich zu beruhigen. Vielleicht hören die Ohren auf zu wachsen, wenn ich nicht mehr an sie denke. Ich denke aber. Genau daran. Jeden Tag. Ich bin ganz Ohr. Ich lege mir jedoch Beschränkungen auf. Ich darf nur einmal die Woche messen. Sonntagmorgen, gleich nach dem Aufstehen. Zwei Stunden später noch einmal. Weil ich Seitenschläferin bin, möchte ich ausschließen, dass sich die Ohren platt gelegen haben und nur deshalb größer sind. Abends messe ich noch einmal. Die Messergebnisse verändern sich im Laufe des Tages nicht. Jede Woche ein halber Zentimeter länger. Meine Ohren werden monströs. Es sind jetzt schon 7,5 Zentimeter Gesamtlänge. Und es ist nicht das Ohrläppchen, das länger wird, weil die Schwerkraft schon so viele Jahre lang daran zieht, nein, die Ohren werden nach oben hin länger. Wenn das so weiter geht, und Monat für Monat zwei Zentimeter dazu kommen, werden meine Ohren in einem halben Jahr über den Kopf hinaus ragen. Eine Assoziation zu gewissen Tieren bleibt nicht aus. Wird es dann noch schwieriger für mich, bis über beide Ohren verliebt zu sein? Ich versuche es mit Affirmationen. Meine Ohren schrumpfen jetzt und bleiben dann klein und unauffällig. Aber meine Ohren hören nicht auf mich. Ich versuche es mit dem Gegenteil, stelle mir all die schrecklichen Probleme vor, die ein Mensch haben kann und die ich nicht habe. Auch das hilft nur wenig. Ich ahne es: das Wohlgefühl muss aus einer anderen Quelle kommen. Bei meinen Recherchen im Internet habe ich keine Beschreibung gefunden, die auf mich zutrifft. Es gibt krankhaften Riesenwuchs, aber dabei wachsen mehrere Körperteile gleichzeitig. Es gibt das Ohrenwachstum im Alter, das aber auf ein bis zwei Zentimeter beschränkt bleibt. Und es gibt eine Amaryllis mit dem Namen Elefantenohr. Ihre Blätter erreichen einen Durchmesser von einem Meter. Schließlich bestelle ich eine. Vielleicht lenkt es mich ab, wenn etwas in meiner Wohnung schneller wächst als meine Ohren. Aber die Pflanze lässt nach drei Tagen die Blätter hängen, und dann siedeln sich Läuse auf ihr an. Das bringt mich auf den Gedanken, dass sich vielleicht auch auf meinen Ohren etwas angesiedelt hat. Mikroben, die die Zellen der Knorpelmasse zur Teilung anregen können und auf diese Weise das Ohrenwachstum aktivieren, um ihren Lebensraum zu vergrößern. Menschen möchten ja auch immer mehr Platz zum Wohnen. Ich habe zum Beispiel früher in einem 8 m² großen Zimmer gewohnt, und jetzt habe ich eine Wohnung mit zwei Zimmern und Balkon, 35 m² groß. Das ist ein Faktor von 4,4. Wenn ich das auf das Wachstum meiner Ohren umrechne, die einmal 5 Zentimeter lang waren, dann komme ich auf 22 Zentimeter Länge.
Ich habe den Verdacht, dass bei der Erfindung der Rolltreppe nicht nur die Idee einer Personen-Beförderung von einem Stockwerk ins andere eine Rolle gespielt hat, sondern auch oder sogar hauptsächlich ein Beziehungsdrama. Jedenfalls ist es das, was mir in den Sinn kommt, wenn ich den Verlauf einer Fahrt auf der Rolltreppe betrachte . Etwas Neues erscheint, lädt dich ein, bietet dir eine Plattform. Du steigst darauf ein, folgst ihr, schwebst, immer höher, mit Leichtigkeit, auf einer stabilen Grundlage, die dann plötzlich spurlos im Boden verschwindet wie nie dagewesen. Du wirst einfach runter geschubst, stolperst, fällst womöglich. Es läuft nicht mehr. Es ist aus. Weil der Erfinder der Rolltreppe eine abrupte Trennung nicht verarbeiten konnte, hat er sie materialisiert. Und seither müssen täglich Tausende und Millionen von Menschen dieses Drama nacherleben. Allerdings haben mittlerweile die meisten gelernt, rechtzeitig die Füße zu heben, elegant abzusteigen und weiterzugehen, zur nächsten Rolltreppe. Es ist gut möglich, dass das Benutzen von Rolltreppen die Lebensform der seriellen Monogamie begünstigt. Eine gewisse zeitliche Parallele ist vorhanden und auch die Tatsache, dass beide Phänomene eher in Städten vorkommen, untermauert meine Theorie. Ich habe immer ziemlich viele Theorien. Das hilft mir im täglichen Leben aber nicht unbedingt weiter. Im Gegenteil. Wahrscheinlich tun sich Leute, die beim Anblick einer Rolltreppe nicht an ein Beziehungsdrama denken, leichter damit, sie zu benutzen. Während ich immer noch am Fuße der Rolltreppe stehe und den Flächen zusehe, wie sie sich zur Stufe erheben und in die Höhe gleiten. Vielleicht hat der Erfinder der Rolltreppe auch eine Nachahmung von Meereswellen angestrebt. Diese sind allerdings ziemlich plump geraten. Wie auch immer, ich muss zum Zug und der Aufzug ist kaputt. Ich warte, bis ich alleine bin, setze einen Fuß auf und den zweiten daneben — es ist eigentlich ganz einfach. Die Rolltreppe ist wahrscheinlich eines der ungefährlichsten Verkehrsmittel.
Wilde Wolken zerfetzen den Himmel, Sturmwind treibt und wirbelt, kein Platz für meine Traurigkeit, der Wind reißt alles mit, Blätter, Zweige, lose Ziegel, festgehaltene Gedanken … meine Bettdecke wird hoch gehoben und weg gerissen. Ich bleib zitternd liegen, schau zum Himmel, da fliegt sie, meine Decke mit dem roten Bezug, der mir der liebste war. Verstört mach ich mich auf, sie zu suchen, meine Bettdecke, und da hängt sie, im Weißdorn, ein paar Gärten weiter. Die alte Frau am Fenster schaut mir zu, wie ich die Decke herunter hole, der Bezug bleibt an den Dornen hängen, reißt ein. “Ja, so war ich auch einmal”, sagt sie, “möchtest du einen Tee?“ Ich möchte keinen, will nur nach Hause. Ich schüttle den Kopf, wende mich zum Gehen, aber jetzt brechen die Wolken, es gießt und hagelt auf mich ein, ich flüchte ins Haus. Vier Stufen hoch, ihre Wohnungstür steht offen, vom Flur geht’s gleich in ein Wohnzimmer, in der Mitte ein Holzofen. “Setz dich”, sagt die Frau, Sepia stand auf dem Klingelschild. Sie deutet auf einen Sessel, der zweite ist schon besetzt, mit einem alten Mann, “Mein Bruder”, stellt sie ihn vor. Er sagt: “Guten Tag”, ich nicke ihm zu, versuche freundlich zu sein, starre ihn aber böse an. Sie sind so vertraut miteinander, die beiden Alten, und mir steht die Vergangenheit bis zur Kehle, ich muss hier wieder raus, und werde von Frau Sepia in den Sessel gedrückt. “Ich hol den Tee”, sagt sie, durchs offene Fenster springen nasse Katzen, fauchen, streiten sich um das Kissen am Ofen. Ich presse meine Bettdecke eng an mich. “Was ist mit dir”, fragt Frau Sepia, als sie ein Tablett mit Tee und Keksen auf das kleine Tischchen neben mich stellt. Ich weine. Der Bruder zieht ein grünkariertes Taschentuch aus seiner Brusttasche und reicht es mir. Die Frau setzt sich auf das Sofa und schaut zum Fenster hinaus, der Sturm trägt herein, was er so findet, Blumenköpfe, Staub, scheppernde Plastiklöffel, einen großen schwarzen Vogel, zerzaust, der Schnabel blutrot. “Nichts für dich dabei?”, fragt sie. Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht, strecke die Hand aus, der Vogel hüpft auf meinen Unterarm, legt den Kopf schief, um mich zu beäugen. “Mein Bruder hat sich gegen mich entschieden”, sage ich. “Vor zwanzig Jahren.”