Einmal kauf ich mir ein Balkon für mich allein, mit blauem Himmel dran und ein paar weißen Wolken. Auf mein Balkon wachsen Tulpen und Krokus. Und dann noch Krähen und Tauben: Wenn ich komm, wedeln sie mit den Flügeln, dass es rauscht und schwirrlt. Das Haus bleibt da, aber wir fliegen davon: mein Balkon, die Vögel, die Blumen und ich. Hoch über die Häuser fliegen wir drüber, tummeln uns in die Wolken hinein. Die unten sind, gucken hoch und neiden uns.
„Julia, du stehst ja immer noch auf dem Balkon! Ist dir nicht kalt?“
„Nein.“
„Komm doch wieder rein, es wird langsam kühl.“
Ein fliegender Balkon ist besser als ein fliegender Teppich, weil er Luft und Lehnen hat: ich kann mich in den Liegestuhl schmiegen oder am Lenkrad stehen. Die Vögel zwitschern und flügeln, die Haare winken dem Wind, wir fliedern durch den Frühling, treiben so schön dahin und alles ist ganz leicht.
„Julia, nicht so weit vorbeugen! Du fliegst mir noch vom Balkon. Komm jetzt rein!“
Sie sagen mir immer vor. Weil ich im Heim wohne. Es sind dauernd welche da, die auf uns aufpassen. Nie hör‘n sie auf, uns zu helfen, damit wir leben können, wie sie es sagen. Sie schützen uns, mal weich, mal hart. Sie bringen uns in Not und bergen uns. Es sind unsere Berge. Was täten wir ohne sie?
Ich geh rein, setz mich in mein Sessel, Puppe auf‘m Schoß. Die hab ich immer dabei. Die Berge sagen: „Julia braucht ihre Puppe. Sie glaubt, es ist ihr Kind.“ Manchmal huscheln sie dann leise miteinander. Ich weiß schon, was sie sagen: dass die Ärzte mein Bauch aufgeschnitten und mir alle meine Babys weggenommen haben.
Die Puppe hat auf dem Rücken ein Loch. Da war früher ein Kasten drin, der hat geredet: „Guten Tag, ich heiße Barbara.“ Den Kasten hab ich raus geschnitten. Die Puppe heißt Nille.
„Nille!“, maunzt Margit, „das ist doch kein Name!“
„Das geht dich ein Scheißdreck an.“
Von mein Sessel aus kann ich alles sehn: die Sofas, den Fernseher, den Esstisch, die Blumen auf der Fensterbank, Primeln. Ich mag es, wenn was blüht.
Jetzt stellt sich Mona in meine Sicht; sie biegt sich vor und zurück, vor und zurück, nimmt Anlauf und kommt dann nicht los.
Margit schlägt mit den Fäusten auf die Wand, rennt raus, schreit im Flur. Das kommt manchmal, weil sie Psychrose hat. Dann sind ihr Dornen in den Augen.
Auf dem Tisch kalkuliert Hannah ihr Geld: Raus aus der Börse, rein in die Börse kullern die Münzen. Und dann alles gut verschüttelt. „Mach nicht so einen Börsenkrach!“, schimpf ich, aber sie hört nicht auf mit dem Geklingel.
Da kommt auch noch Sonja, die folgsame Diebin. Sie hat mir mein Geburtstag gestohlen. Jeder Mensch hat ein Geburtstag. Da wird die Zimmertür geschmückt und der Platz am Tisch. Alle gucken dich feierlich an und dann gibt‘s Geschenke. Jeder hat so ein Tag. Ich hab den 5. Mai. Dann ist Sonja eingezogen und wollte auch den 5. Mai. Hab‘ ich ihr gleich gesagt, dass sie sich das abschminken kann und ein andern Tag nehmen soll. Gibt ja genug von Januar bis Dezember.
Sie nahm den 5. April. Wie sie aber da Geburtstag feiern wollt, haben die Berge gesagt: „Das geht doch nicht, du hast am 5. Mai! Da hat deine Mutter dich zur Welt gebracht!“
Dann soll ihre Mutter sie zu einem anderen Tag bringen. Aber Sonja hat auf die Berge gehört und nimmt jetzt wieder meinen 5. Mai. So eine Gemeinheit!
Zu mir haben die Berge gesagt: „Das verstehst du nicht.“ Ich verstehe aber sehr gut, dass ein Tag zu klein ist für zwei Geburtstage.
Und mein Wunsch ging auch nicht in Füllung. Hab mir fliegen gewünscht. Flugzeugfliegen, vorne am Lenkrad. Darf ich aber nicht, weil ich blöd bin. „Geistig behintert“ heißt das. Ist aber das Gleiche. Ein Geist hat ein weißes Kleid an; er sitzt im Kopf und rechnet und liest. Bei meiner Geburt haben sie mich mit der Zange angepackt und den Geist arg gequetscht. Deshalb kann er nicht so gut Lesen und Rechnen und ich muss im Flugzeug hinten sitzen. Aber hinten hab ich keine Lust.
Dann wollt ich Ballonfliegen. Ging auch nicht. Weil ich zu verbreitet bin. „Tut mir Leid“, hat Irene gesagt, „Da ist so wenig Platz. Und wenn das Gewicht nur auf einer Seite ist, dann hängt der Korb schief.“ Immer geht was schief bei mir. Ich bin gepeinigt. Dumm und dick. Ich wär lieber dünn und gescheit, aber ich weiß nicht, wie ich mich da mit hin nehmen könnt.
Ich bin nicht immer dick. Nur wenn andere dabei sind. Und wenn Klamotten zu klein sind. Weils in meiner Größe nix gibt. Oder wenn ich Treppe hoch gehen muss. Treppen drücken mich runter. Bis ich oben bin, bin ich schweißgeschwitzt.
Wenn ich abends im Bett sitze, bin ich nicht dick. Ich darf im Bett nicht essen. Ich darf nur essen, wenn andere dabei sitzen und so gucken, dass es mir nicht mehr schmeckt. Wer dick ist, soll nicht essen. Wer so dick ist wie ich, hat genug gegessen für das ganze Leben.
Ich soll dünner werden. Gewicht verlieren. Ich verlier aber nicht gern.
Früher musste ich immer auf die Waage, aber jetzt zeigt sie mein Gewicht nicht mehr an, es ist ihr zu viel. Ich bin über sie hinaus, ich habe sie überwiegt. Mir war‘s recht, dass dieses Waagen‑Gesteige ein Ende hatte. Aber die Berge waren bestürzt; und sie stürzen nicht gerne.
Jetzt sagen sie, dass das Essen mich krank macht. Zuckerkrank. Ich soll mich dünn machen oder ich werd sterben. Schöne Aussichten. Ich will nicht sterben. Ich will essen, ich will fliegen, ich will mich ausbreiten können, wies mir gefällt.
Michaela kommt zu mir, legt die Arme um mich, drückt ihre Wange gegen meine. Ich werd ruhig mit ihr. Es gibt ein Zusammenstimmen bei uns. Wir sind Freundinnen, freundliche Freundinnen. Mit Michaela knattert nichts, es gibt keine Tricks, nur Schönheit.
Sie leckt ein bisschen meine Wange, probiert mein Geschmack. Die Zunge hängt ihr sowieso draußen, also nutzt sie sie gleich. Ich streichle ihr über die blonden Haare, sie sind weich wie Löwenzahn.
„Abendessen!“, ruft Stefan. Alle setzen sich um den Tisch. Nur Leonie nicht: sie hat den Magendammkater. Er wütet ihr im Bauch herum und schmeißt alles raus, oben und unten, und beides stinkt verdammt.
Ich darf nur ein Brot. Helmut darf nicht Messer ablecken. Reni soll ihre Zähne nicht in den Tee werfen. Wir sind immer von Bergen umgeben. Sie wissen mehr, sie können besser, sie kennen alles: was recht ist und was link ist, wie man isst, wann es kalt ist. Messer, Waagen, Flugzeuge: alles haben die Berge erfunden.
Nach dem Abendessen setz ich mich in mein Sessel und warte auf Notfälle. Die gibts bei uns immer: Margit hört nicht auf mit Schrein, Hannah spuckt und kratzt, Herbert schlägt sich selbst ins Gesicht. Reni geht auf dem Sofa aufs Klo und Helmut fällt manchmal um und zuckt. Der hat elektrische Anfälle.
Wenn Notfall ist, geh ich. „Julia kann keine Spannung ertragen“, sagen sie.
Mit dem Lift fahr ich runter in den Keller. Ich luke und linse links und rechts: niemand da. Also rein in die Vorratskammer. Da gibt es immer mehreres vom selben. Deshalb fällt es nicht auf, wenn was weg ist. Kühlschrank auf, Puppenpullover hoch: Ein Pudding geht durchs Loch, eine Mettwurst, Mozzarella passt auch noch. Alles, was ich nicht essen darf. Puppenpullover runter, hoch in mein Zimmer.
Ich hab ein klein Schrank, den ich abschließen kann. Den Schlüssel hat Irene mir gegeben. „Vielleicht möchtest du ja irgendetwas Persönliches einschließen.“ Ja, möchte ich. Mein persönliches Abendessen. Käse, Wurst, Pudding. Von allen Dingen ist Pudding am besten.
Pudding hat mein Vater so gerne gegessen. Hat meine Mutter gesagt. Gesehen habe ich es nicht, weil als ich kam, war er schon untergetaucht.
Mein Vater war Kapitän. Er hat Schiffen befohlen, ins Meer hinaus zu schwimmen. Einmal ging es schief: Da kam Wasser rein und das Schiff ging unter. Sie konnten meinen Vater nicht bergen. Meine Mutter weinte oft: „Ach, wenn sie ihn hätten bergen können!“
Wenn sie mein Vater geborgen hätten, würde er jetzt zur Tür hereinkommen und sagen: „Hallo Julia! Essen wir Pudding zusammen?“ Er kommt aber nicht. Ist auf dem Meeresgrund.
Ich geh auf den Flur und schließ mein Zimmer ab. Renate schleppt was unter ihrer Jacke, das hat sie sicher geklaut. Und vor Peters Tür riechts verbrannt, er zündet wieder.
Jeder sucht sich so seine Gelegenheit zu sein. Wir sollen folgsam sein, aber wir können alle nicht richtig, wir müssen fälschen.
Das Heim ist unser Einundalles. Es steht fest. Es gibt kein Ausbrechen. Wenn’s uns nicht passt, haben wir Ganzundgarnichts mehr. Also passt es uns.
Um acht kommen die Nachtrichten und wenn alle auf die Wetterwand starren, sag ich gute Nacht. Ich putz mir die Zähne, geh in mein Zimmer, schließ ab. Und da beginnt der Tag erst richtig. Ich hol ich mir alles, was ich nachmittags gesammelt hab, aus dem klein Schrank; alle meine Lieblinge. Damit wird mein Bett dicht gedeckt: Hering in Sahnesoße, Mettwurst, Mozzarella und Kammbär-Käse.
Mir wird ganz wohlig. Es ist wie früher, als ich noch eine Mutter hatte: sie ist immer abends nach Hause gekommen, mit vollen Taschen. „Iss, Julia, iss, mein Liebes!“ Und sie hat mich so angesehen, wie es seither nie mehr passiert ist.
Ich esse und ich fülle mich. Das ist so friedigend! Zum Schluss noch den Nille-Pudding. Dann hab ich mich leckergebissen. Sorgfältig sammle ich das Bröselige ein und stopf den Abfall in das Puppenrückenloch. Jetzt bin ich richtig gemütlich, und so geh ich schlafen.
Ich mach die Augen zu und bin wieder auf mein Balkon. Die Tauben schnurren und fliegen mit, hoch hinaus. Und dann sind die Berge klein, und ich bin leicht, und mein Balkon und ich, wir streifen durch den Himmel und sind was Übermutiges.