Als ich am Freitagabend nach Hause komme, sitzt vor meiner Wohnungstür eine Katze. Ich bleibe auf der Treppe stehen und wedle mit den Händen, um das Tier zu verscheuchen. Sie bleibt sitzen und schaut mich an. Grüne Augen.
Ich klingle beim Nachbarn gegenüber. “Wissen Sie, zu wem diese Katze gehört?”, frage ich ihn, als er öffnet und mich überrascht ansieht. Ich habe noch nie bei ihm geklingelt. “Die ist von unten”, sagt er und deutet einen Stock tiefer. “Die Katze von unten ist rothaarig”, gebe ich zu bedenken, “und hat sehr langes Fell, während diese hier …”, ich zögere, etwas zu beschreiben, was er ja selbst sieht, aber vielleicht sieht er etwas anderes als ich, “während diese hier schwarz und kurzhaarig ist.“
Der Nachbar zuckt mit den Achseln, als wären Frisuren und Haarfarben keine nennenswerten Kriterien. Er selbst hat auch nichts dergleichen auf dem Kopf. “Und jetzt?”, frage ich ihn, in der Hoffnung, dass er sich zuständig fühlt. “Was machen wir mit der Katze?” Ich verkneife es mir, zu erwähnen, dass sie sich schließlich mit seiner Glatze reimt. Er zieht die Stirn in Falten und sieht die Katze, die ihre Krallen an meinem Türvorleger schärft, nachdenklich an. “Ich bin gegen Tierleid”, sagt er dann und verschwindet mit einem knappen “Guten Abend”.
Ich starre die geschlossene Tür an. Ich bin auch gegen Tierleid. Aber, was bedeutet das in diesem konkreten Fall? Weil mir nichts anderes einfällt, schließe ich meine Tür auf. Ganz selbstverständlich kommt die Katze mit rein. “Ich hab aber nichts zu essen für dich”, sage ich. Sie schnurrt und findet den Weg in die Küche alleine.
Wenig später bin ich auf dem Weg zum Supermarkt. Ich verweile in der Haustierabteilung, die ich bis jetzt immer mit einem überlegenen Lächeln gemieden habe. Das Angebot an Katzenfutter ist überwältigend. Zum Glück weiß ich, seit einer Affäre mit einer Supermarktverkäuferin, dass die billigsten Produkte immer ganz unten stehen.
Zu Hause breite ich Zeitungspapier auf dem Boden aus und stelle die geöffnete Dose darauf. Die Katze schnuppert, kostet, rümpft die Nase, schüttelt die Pfote und miaut so anklagend, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. So billiges Futter ist bestimmt minderwertig und enthält schädliche Zusatzstoffe. Gut, dass ich die Schuhe noch nicht ausgezogen habe.
Als ich später erschöpft und hungrig auf dem Sofa sitze und darüber nachdenke, wie ich dieses Tier am schnellsten wieder los werde, kommt sie zu mir und schmiegt sich an mich. Mein Herz wird weich. Ich esse ja auch nicht alles. Ich streichle die Katze und bemerke einen kleinen weißen Halbmond auf ihrer Brust. Selína, sage ich zu ihr, vom griechischen σελήνη für Mond, und sie sieht mich an, als ob ich ihren Namen erraten hätte.
“Brauchen wir nur noch einen Schlafplatz für dich”, sage ich später zu ihr und wundere mich schon gar nicht mehr darüber, dass ich mit einer Katze spreche. Selína löst dieses Problem ohne viel Federlesens, indem sie es sich in meinem Bett bequem macht. “Ein Fehler”, sagt Fiona, als ich ihr am nächsten Tag davon erzähle. “Du musst ihr Grenzen zeigen. Und du darfst dich nicht an sie gewöhnen. Wer weiß, wo sie hin gehört.“
Aber Selina bleibt das ganze Wochenende. Am Montag besorge ich eine Katzenleiter für den Balkon und reaktiviere die Katzenklappe in der Balkontür, die die Vormieterin angebracht hat. “Probier mal”, sage ich, und Selína läuft elegant die Leiter hinunter, findet flugs ein Loch im Gartenzaun und verschwindet zwischen den Buchsbaumbüschen des Nachbargartens.
Fiona ruft an: “Vielleicht sind die Leute, bei denen sie gewohnt hat, umgezogen. Katzen laufen oft zum alten Haus zurück und sind dann verwirrt, weil sie nicht mehr rein kommen. Du musst Zettel aufhängen: “Katze zugelaufen.” Sie kommt sogar vorbei und hilft mir, den Text zu verfassen und meine Telefonnummer mehrmals quer dazu zu platzieren. Nach dem Ausdrucken trennen wir die Nummern mit der Schere voneinander, sodass sie einzeln abgerissen werden können. Die Scherenschnitte gehen mir ans Herz.
Gemeinsam fahren wir durch die Straßen und kleben den Hinweis auf Ampelstangen und Straßenlaternen. Mit jedem geklebten Zettel werde ich trübsinniger, während Fiona am Ende sehr zufrieden ist. “Jetzt hast du alles getan, um die rechtmäßigen Besitzer*innen zu informieren.”
“Ich finde es unmoralisch”, keife ich sie an, “bei einer Katze von rechtmäßigen Besitzer*innen zu sprechen.” “Was ist denn in dich gefahren?”, fragt sie mich erstaunt. “Ich bin gegen Tierleid”, werfe ich ihr an den Kopf und radle davon. Zu Hause tut es mir Leid, ich schicke ihr eine versöhnliche Telegram-Nachricht. Sie geht sofort darauf ein — ach, liebe Fiona-Freundin, denke ich — und wünscht mir eine gute Nacht.
Ich habe aber keine. Ich kann nicht schlafen. Selína ist nicht zurück gekehrt und ich stelle mir vor, wie sie durch die Straßen läuft, und überall diese Zettel sieht, mit denen ich sie loswerden möchte.
Natürlich kann sie nicht lesen, aber vielleicht spürt sie es, dass sie bei mir unerwünscht ist. “Es war Fionas Idee”, versuche ich ihr telepathisch zuzurufen, völlig sinnlos. Um vier Uhr morgens halte ich es nicht länger aus. Ich ziehe mich an, fahre los und reiße jeden einzelnen Zettel wieder ab.
Als ich nach Hause komme, ist Selína schon da. “Mein Kätzchen”, flüstere ich liebevoll, auf einmal sehr unkritisch gegenüber Besitzdenken. Sie frisst auch nachts gerne, stelle ich fest. Und dann schlafen wir beide so selig, dass ich zu spät zur Arbeit komme.
Abends verschwindet Selína über die Balkontreppe und kommt erst am Freitag wieder. Ein paar Wochen lang geht das so, Selína kommt und geht, wie sie will, Freund*innen geben mir Ratschläge für die Katzenerziehung, Fiona fragt ab und zu, ob sich jemand gemeldet hat, und ich antworte wahrheitsgemäß: “Nein, niemand.“
Wenn Selina ein paar Tage lang nicht nach Hause kommt, bin ich nicht sehr beunruhigt. Ich bewundere ihre Freiheitsliebe und ihren Eigensinn. Ich male mir aus, wie sie alleine oder mit ihren Katzenfreund*innen durch die Gärten und Straßen streift, wild und draufgängerisch, sich von Mäusen ernährt und in Kämpfen ihr Revier behaupten muss. Erst danach fällt mir auf, dass sie nie schmutzig nach Hause kommt und keine einzige Wunde hat.
Mein kleiner Tiger, nenne ich sie, obwohl sie es gemütlich mag. Sie ist auch Langschläferin. Oft kommt sie morgens zu mir ins Bett und kuschelt sich dann so warm und weich an mich, dass mir das Aufstehen noch schwerer fällt als sonst. Eines Tages komme ich dann statt der üblichen zehn Minuten eine halbe Stunde zu spät zur Arbeit und werde fristlos gekündigt. Obwohl mir der Job nicht sehr am Herzen gelegen hat, bin ich doch durch die Kündigung gekränkt und schlimmer, als ich gedacht hätte, davon getroffen.
Missmutig laufe ich durch den Regen, irre durch die Straßen, in Gedanken noch im Streitgespräch mit meinem Chef. Ich suche nach den Argumenten, die mir gefehlt haben, und wenn ich eines finde, fühle ich mich ein bisschen besser; so lange, bis der Groll mich wieder überfällt.
In diesem Zustand laufe ich durch die Gladiolenstraße, eine Parallelstraße zu meiner, durch die ich sonst nie gehe. Mein Blick fällt durch ein erleuchtetes Fenster — und da sehe ich, auf einem granatroten Sofa hingestreckt wie die Inkarnation einer Katzengöttin aus dem alten Ägypten, Selína.
In dem Moment weiß ich schon alles. Sie betrügt mich. Ich fühle mich elend. Ich sollte jetzt gehen. Wider besseres Wissens klingle ich an der Haustür. “Kreisler” steht auf dem Namensschild. Frau Kreisler öffnet und sieht mich fragend an. “Entschuldigen Sie die Störung”, sage ich mit zitternder Stimme. “Ich wollte meine Katze abholen.” “Ihre Katze?” “Ja, es ist meine.” “Aber Ihre Katze ist nicht hier.” “Auf dem roten Sofa.” “Das ist mein Kater.“
Es ist so demütigend. Aber ich schaffe es nicht, mich abzuwenden. “Überzeugen Sie sich selbst!” Auf schwachen Beinen folge ich Frau Kreisler ins Wohnzimmer. Es ist heiß und stickig. Selína sieht mich ganz ruhig an, ohne jedes schlechte Gewissen. Der weiße Halbmond prangt auf ihrer Brust. Sie zuckt nur mit einem Ohr, als ich ihren Namen stammle, aber als Frau Kreisler ihr die Hand hin streckt, und sie “Max!” nennt, drückt sie ihr Köpfchen gegen die Handfläche und schnurrt wie frisch verliebt.
“Es ist ein Weibchen!”, protestiere ich empört, als ob es das wäre, was mir das Herz bricht. Frau Kreisler sieht mich mitleidig an. Ich komme mir lächerlich vor. Am liebsten hätte ich Frau Kreisler beiseite geschubst und die Katze am Kragen gepackt und mit genommen. Stattdessen murmle ich etwas von einem Irrtum.
Am späten Abend höre ich die Katzenklappe und gleich darauf kommt Selína zu mir ins Bett, schmiegt sich an mich und schnurrt, gerade so, als ob nichts gewesen wäre. Als ob ich weiterhin die Einzige in ihrem Leben wäre. Ich drehe ihr den Rücken zu. Ich kann ihr nicht verzeihen, dass sie bei Frau Kreisler war und dort einen auf Max gemacht hat. Und mich verleugnet hat. Als ich schlaflos neben Selína liege, komme ich mir dämlich vor. Es ist doch absurd, auf eine Katze eifersüchtig zu sein.
Am nächsten Morgen, als Selína durch die Katzenklappe schlüpft, renne ich in den Garten hinunter und verfolge sie. Wo sie unter dem Zaun hindurch kriecht, steige ich darüber, knicke die Zweige der Buchsbaumbüsche und hinterlasse Spuren im nachbarlichen Gemüsebeet. Daran, spätestens, hätte ich erkennen müssen, wie es um mich bestellt ist. Dass es mir völlig egal ist, was die Nachbarn denken, wenn sie mich in Hausschuhen quer durch ihren winterlichen Garten eilen sehen. Mir ist nur wichtig, Selína nicht aus den Augen zu verlieren und Gewissheit darüber zu bekommen, ob sie mich wieder betrügt.
Sie nimmt den kürzesten Weg in die Gladiolenstraße und schlüpft dort durch die Katzenklappe in Frau Kreislers Haus. Der schwarze Schwanz zuckt kurz, bevor er hinter der Klappe verschwindet, wie um mich weg zu scheuchen.
Natürlich hat Selína mein Hinterherschleichen bemerkt; trotzdem hat sie, ohne Rücksicht auf meine Gefühle, den direkten Weg zu Frau Kreisler gewählt, ohne den geringsten Versuch, ihr Fremdgehen zu verbergen. Warum sollte sie auch. Wie sollte sie meine Gefühle erkennen und darauf reagieren? Sie ist doch nur eine Katze. Wenn Selína aber nur eine Katze ist, wieso hat sie mich dann bei Frau Kreisler nicht genauso begrüßt, wie sie das sonst tut?
Niedergeschlagen gehe ich nach Hause. Immer wieder sehe ich Max auf dem roten Sofa thronen, Frau Kreisler sagt: “Das ist mein Kater!” und nichts in Selínas Verhalten widerspricht. All die Wochen ist Selína weg gewesen und ich habe immer gedacht, sie würde irgendwo umher streifen, mit anderen Katzen, oder alleine, und wild sein. Und das war gut so. Wild sein war okay. Andere Katzen auch. Frau Kreisler nicht.
Im Treppenhaus treffe ich den Nachbarn von gegenüber. Ich bin wütend auf ihn. Wahrscheinlich, weil er sich so leicht aus der Affäre gezogen hat. Ich werfe ihm ein knappes Guten Morgen hin, er scheint meine Gefühle nicht zu erkennen und grüßt freundlich zurück. Als wir schon zwei halbe Treppen auseinander sind und er so tief unter mir steht, dass ich ihm auf die Glatze spucken könnte, fragt er: “Was ist eigentlich aus der Katze geworden?” ‘Hackfleisch’, will ich sagen und erschrecke über meine Brutalität. Stattdessen murmle ich: “Die Katze ist aus dem Sack!” Er mustert meine schlammbespritzten Hausschuhe und geht wortlos weiter.
Nachdem ich mir trockene Socken angezogen habe, rufe ich Fiona an. Aber was soll ich sagen? ‘Meine Katze hat eine andere’? Ich komme mir so blöd vor. Als Fiona drangeht, stoße ich hervor: “Ich bin gekündigt worden!” und breche in Tränen aus. “Naja”, sagt Fiona, “wenn dir der Job so wichtig war, hättest du doch auch mal pünktlich hingehen können.“
Alle sind so grausam zu mir. Ich überlege, die Katzenklappe zuzunageln und die Leiter in den Garten hinunter zu stoßen. Selína bekommt nur noch Gemüsesuppe von mir. Oder ich gebe eine Anzeige auf: “Katze zu verschenken”. Aber natürlich tue ich nichts dergleichen. Wie alle Betrogenen leide ich. Ich versuche es mit Meditationen über Besitzdenken. Phantasiereisen, in dem ich jeglichen Anspruch an meine Katze aufgebe oder meine Eifersucht in einen Koffer packe, den ich in einem Boot flussabwärts fahren lasse, weit weg.
Dann wieder kaufe ich Katzenspielzeug und sogar einen abgepreisten Adventskalender für Katzen. “Du darfst nur die Tage öffnen, an denen du bei mir bist”, sage ich zu ihr. Sie hat ihn in fünf Minuten zerfetzt und alles essbare aufgefressen. Ach, Selína. Wenn sie nicht so eine süße Katze wäre. “Was hat Frau Kreisler denn, was ich nicht habe?”, frage ich sie vorwurfsvoll, wenn sie auf meinem Schoß liegt. Sie schnurrt nur.
Ich habe angefangen, durch die Straßen zu laufen. Das beruhigt mich ein bisschen. Nur die Gladiolenstraße habe ich mir verboten. Und da, eines Tages, sehe ich sie. Selína. Mit einem alten Herrn. Er streichelt sie, sie geht mit ihm durchs Gartentor. “Komm, Schurli”. Flugs bin ich bei ihnen. “So eine schöne Katze”, sage ich. Die beiden drehen sich zu mir um. Ganz deutlich sehe ich den Halbmond auf ihrer Brust. “Ja”, sagt er, “sie ist die Freude meines Alters. Ich habe nur eine Sorge. Wenn ich mal nicht mehr bin, oder ins Altersheim muss, wer nimmt sie dann?”
“Das könnte ich machen”, biete ich an. “Wirklich?” Er sieht mich erfreut an. “Ja. Ich würde nur gerne wissen, ist das ein Weibchen oder ein Männchen?” “Keine Ahnung”, er kratzt sich am Kopf. “Ich hab mal gelesen, dass das heutzutage keine Rolle mehr spielt.” “Ach so”, sage ich, “ja dann.” Ich schreibe ihm meinen Namen und meine Nummer auf die Rückseite eines alten Einkaufszettels. Er nimmt ihn und liest jede Zahl einzeln vor. Ich nicke. “Ich wollte immer schon mal eine Katze haben”, sage ich.
“Das ist so nett von ihnen. Sie wissen gar nicht, was Sie mir damit für einen Gefallen tun! Haben Sie denn auch genügend Zeit, um sich um das Schurli zu kümmern?” “Aber ja. Ich bin freiberuflich tätig und arbeite meistens zu Hause. Und ich fahre auch nie lange weg, das kann ich mir gar nicht leisten.” “Ich kann Ihnen genügend finanzielle Mittel zukommen lassen, damit Sie immer gut für das Schurli sorgen können.” “Danke, das ist nicht nötig”, sage ich. “Das beweist, wie anständig Sie sind.” Er lächelt mich an. “Haben Sie morgen Nachmittag Zeit?” Ich nicke. “Dann kommen Sie doch um drei, und wir besprechen, was das Schurli alles braucht und wie ich Sie in mein Testament aufnehmen kann.“
Beschwingt gehe ich nach Hause. Ich habe den Impuls, in der Gladiolenstraße vorbei zu gehen und Frau Kreisler die Zunge heraus zu strecken, aber ich lasse es. Es ist nicht mehr nötig. Ich bin von meiner Eifersucht geheilt. Wunderlicherweise bewirkt das doppelte Fremdgehen von Selína völlige Entspannung auf meiner Seite.
Eifersucht ist ein seltsames Gefühl. Es quält wie kaum ein anderes, aber wenn es vorbei ist, ist es kaum noch nachzuvollziehen. Was ist schlimm daran, dass Selína auch andere Namen hat und es sich in verschiedenen Häusern bequem macht? Ist das nicht eine wunderbare Eigenschaft? Es gibt mir die Freiheit, jederzeit zu verreisen, ohne mich um den Verbleib meiner Katze zu kümmern. Und jetzt bekomme ich sogar noch eine Erbschaft.
Als Selína zu mir nach Hause kommt, empfange ich sie herzlich. “Guck mal, ich habe dir Kalbsleberragout gekauft.” Sie frisst, putzt sich, und kommt dann zu mir aufs Sofa. Ich streichle sie, sie schnurrt, wir sind ein Herz und eine Seele.