Samstag, halb eins, Glatteis. Gedränge an der Haltestelle. Ich lasse mich mit ins Innere der Straßenbahn schieben, bekomme ein freies Sitzpolster zu fassen und lasse es nicht mehr los, bis ich mich darauf festgeklemmt habe, beschwert durch meine Einkaufstasche voller Gemüse.
Als es soweit ist, dass eine gewisse Gemütlichkeit eintreten könnte — der Zeitraum, in dem die Füße nicht mehr weh tun, und die Hämorrhoiden noch nicht – tritt stattdessen jemand anders ein und sagt: „Fahrscheinkontrolle“. Ich müsste sofort aufspringen und mich zum Automaten drängeln, aber ich bleibe sitzen. Es ist diese erdrückende Sinnlosigkeit.
Alle zeigen ihren Fahrschein, gleichgültig, nebenbei. Wenn man einen hat, ist es keine große Sache. Man macht sich keine Gedanken darüber. Es ist normal, dazu zu gehören, etwas zeigen zu können, einen Beweis: ich gehöre hierher. Mir fehlt dieses grundlegende Gefühl sowieso, deshalb würde es mir nichts nützen, einen Fahrschein zu kaufen. Ich würde mich damit nicht besser fühlen. Das heißt, im Moment schon, jetzt, wo dieser kurz angebundene Kontrolleur vor mir steht und sich über nichts anderes unterhalten will als nur über diesen einen Fahrschein, den ich nicht habe.
Ich beginne, in meinen Hosentaschen zu suchen. Ich weiß, dass da kein Fahrschein drin ist. Trotzdem hoffe ich, etwas Hilfreiches zu finden. Gerade, weil ich sonst nicht dazu gehöre, gehöre ich irgendwo anders hin. Von diesem Anderen weiß ich zwar nicht so viel, meine Hosentaschen sind aber zweifellos ein Teil davon. Es sind Sammelorte, wie Buchten, wo Dinge an Land gespült werden, die von weit auseinander gelegenen Orten stammen. Ursprünglich hatten diese Dinge nichts miteinander zu tun, und dann liegen sie neben- und übereinander, verheddern sich ineinander und vermischen sich miteinander.
Durch die Körperwärme und die Reibung zwischen Oberschenkel und Hosenstoff entstehen dann so Zwitter-Wesen in den Tiefen meiner Taschen und führen dort ein verborgenes Leben. Sie bohren auch manchmal Löcher, rutschen am Bein hinunter, kullern ins Freie. Und, wenn es die Umstände erfordern, treten sie sogar in Aktion.
So erkläre ich mir zumindest im Nachhinein, was da in der Straßenbahn passiert ist. Während ich in meinen Hosentaschen suche, und der Kontrolleur ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden klopft, entsteht Etwas an der Tür, durch die ich gekommen bin. Die Leute weichen zur Seite, drängen sich in den anderen Teil des Waggons, zücken dort ihre Handys.
“Keine Ablenkungsmanöver!”, sagt der Kontrolleur, als ich mit zittrigem Zeigefinger auf das monströse Etwas in seinem Rücken zeige. Auf unserer Seite ist es auf einmal ganz leer, nur ich und der Kontrolleur und hinter ihm diese breite gelbe Schlange. Sie hat Ähnlichkeit mit dem gelierten Stück Ingwer, das mir letzte Woche im Kino meine Sitznachbarin geschenkt hat, das aber so beißend scharf war, dass ich es nach einem kleinen Biss in ein Taschentuch gewickelt und in meine Hosentasche gesteckt habe.
Die Schlange richtet sich auf, der Kristallzucker auf ihrer Haut glitzert. 11. Reihe Platz 7 steht auf ihrem Bauch, das muss die Kinokarte sein. Erst als ein lautes Knirschen zu hören ist, fährt der Kontrolleur herum und erstarrt, während die Schlange sich zu ihm beugt, und ihre lange, gelierte Zunge, mit Zuckerkörnern übersät, witternd näher kommt, und ihm liebevoll übers Gesicht leckt.