Ich habe jetzt eine Wohnung im fünften Stock eines vierstöckigen Wohnhauses. Das Treppenhaus endet im vierten Stock, der Aufzug fährt aber über das Dach hinaus und wenn ich dort oben aussteige, gibt es eine kleine Brücke am Schornstein vorbei bis zu meiner Haustür. Ich wohne ganz alleine hier oben und die Wohnung ist wirklich schön, so luftig.
Die Miete ist sehr günstig, offiziell ist diese Wohnung nämlich eine Vogel-Beobachtungs-Station. Deshalb gibt es auch so viele Fenster und ich habe die Auflage, dass an den Wänden nur Bilder von Vögeln hängen dürfen. Falls mal eine Kontrolle kommt. Dafür muss ich auch Listen bereit halten, auf denen die Zahlen schon eingetragen sind, ich brauche nur das aktuelle Datum dazu zu schreiben.
Als ich mich um die Wohnung beworben habe, musste ich einen Vogel-Erkennungs-Test machen. Zum Glück hatte ich schon vorher großes Interesse an Vögeln, zusätzlich habe ich dann zwei Wochen lang Tag und Nacht den Vogelatlas auswendig gelernt. Es gab mehrere hundert Bewerber*innen, und ich habe die Wohnung letztendlich nur deshalb bekommen, weil ich einmal eine Fernbeziehung in Australien hatte und dadurch auch den Blaubrust-Spitzschwanz-Rosenspötter erkannte, den es in Europa bis vor kurzem nicht gab, der aber durch den Klimawandel eingeflogen ist.
Ich bin sehr froh über mein neues Zuhause. Es gibt nur ein Problem. Der Aufzug ist ziemlich oft kaputt. Herr Unger aus dem zweiten Stock ist für die Reparatur zuständig, er kümmert sich aber nur sehr unregelmäßig darum. Wenn ich morgens bemerke, dass der Aufzug nicht funktioniert, rufe ich bei meiner Nachbarin im vierten Stock an: “Es tut mir Leid, es ist wieder einmal so weit.” Am Schornstein ist eine Feuerleiter befestigt, mit ihrer Hilfe komme ich bis zum Dachvorsprung. Dort gibt es eine Strickleiter, die bis zum vierten Stock hinunter hängt. Ich klettere runter und dann muss Frau Blau die unterste Sprosse mithilfe einer langen Stange mit Haken bis zu ihrem Fenster heran ziehen, sodass ich die Haltegriffe an der Außenwand fassen kann.
Mittlerweile bin ich ziemlich geübt im Reinklettern, nur Frau Blau bekommt es immer mit den Nerven. Sie sinkt erschöpft in ihren Sessel: “Schrecklich! Wenn Sie jetzt runter gefallen wären! Sie könnten tot sein!” Ich mache ihr heiße Milch mit Honig, das beruhigt sie, und dann ziehe ich eine Schachtel Pralinen aus dem Rucksack, bei deren Anblick ihr Gesicht aufleuchtet. “Das wäre doch nicht nötig gewesen!”, ruft sie, während sie die Schachtel aufreißt. “Möchten Sie auch eine?” “Nein danke, ich muss zur Arbeit.” Ich hetze dann ins Büro, und bin trotzdem zu spät. Die hochgezogene Augenbraue meines Chefs bewirkt, dass ich eine Stunde länger bleibe, unbezahlt. Dadurch habe ich den Job noch behalten können.
Es läuft also ganz gut. Frau Blau ist nett und sie ist fast immer zu Hause. Sie geht nur sehr früh zu Bett. Wenn ich nach neun nach Hause komme, und der Aufzug nicht funktioniert, muss ich im Keller übernachten. Ich habe aber Glück, weil ich dort einen Kellerraum habe, durch den das Heizungsrohr verläuft. Meine Campingsachen hab ich sowieso im Keller, Isomatte, Schlafsack, Stirnlampe, und jetzt hab ich mir noch einen kleinen Vorratsschrank mit Nüssen und Schokolade da rein gestellt, außerdem ein Bücherregal.
Da sitze ich dann also ganz kuschelig, ans warme Heizungsrohr gelehnt, lese und esse. Wasser hab ich mir vom Hahn im Waschkeller geholt, dort kann ich mich auch waschen, und ich hab mir angewöhnt, auf meinem Wäscheständer im Trockenraum immer Wäsche zum Wechseln und ein Handtuch hängen zu lassen.
Ich schlafe auch meistens ganz gut, dort unten im Keller, sogar wenn eine Waschmaschine läuft, es ist ja ein regelmäßiges Geräusch. Nur beim Schleudern wache ich auf. Und manchmal, wenn ich nicht so gut drauf bin, ist die Kelleratmosphäre ungünstig für mich. Es schlägt mir dann aufs Gemüt. Es bedrückt mich, dass alle anderen über mir jetzt gemütlich auf ihrem Sofa sitzen oder in der Küche beim Abendessen. Negative Gedanken kriechen in meinem Gehirn herum: Ich bin eine Versagerin, habe es zu nichts gebracht habe im Leben.
In so einer Situation muss ich einmal an meine Mutter denken. Ob ich sie wenigstens damit beeindrucken könnte, dass ich jetzt in einer Vogel-Beobachtungs-Station wohne. Meine Mutter liebt Vögel. Weil sie so schön bunt durch die Luft fliegen.
Als Kind habe ich oft versucht, bunt durch die Luft zu fliegen. Ich bin aber immer auf die Schnauze gefallen. Meine Mutter hat dann zu mir gesagt: “Aus dir wird nie etwas!”, und mein Schlafplatz im Keller scheint ihr Urteil zu bestätigen. Obwohl ich es doch gar nicht will, dieses Etwas, das ich werden soll, spüre ich den alten Schmerz wieder, scharf und vernichtend. Toxische Familienpackung. Ich kann kaum noch atmen, die staubigen Kellerwände erdrücken mich.
Und dann weiß ich es auf einmal: Meine Mutter hat sich selbst gemeint! Sie wollte Schauspielerin werden und ist Verkäuferin geworden. Mit einem reichen Mann wollte sie ein angenehmes Leben führen, aber das wurde nie so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie wollte den gesellschaftlichen Aufstieg, das hat gar nichts mit mir zu tun. Ich will keinen Aufstieg.
Moment mal, Aufstieg? Doch, das ist die Lösung! Ich lasse meine Mutter im Keller und packe meinen Rucksack, nehme ihn vor die Brust, setze die Stirnlampe auf. Der Schornstein ist nicht mehr in Betrieb und die Eingangstür ist nicht verschlossen. Ich krieche in den Schlot hinein. In regelmäßigen Abständen sind Stahlstufen befestigt. Bald hab ich den Dreh raus und klettere rasch höher. Zum Glück bin ich gelenkig und kräftig. Oben gibt es ein Dach, das ich aus seiner Verankerung heben muss. Dann bin ich draußen, stütze mich mit den Ellbögen ab und schiebe mich ganz aus dem Schlot raus.
Dreckig von Kopf bis Fuß und genauso glücklich, sitze ich auf dem Schornstein. Die Aussicht ist wunderbar, und alle Sterne leuchten für mich. Ich habe den Aufstieg geschafft.
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