Hier kannst du vier Szenen aus meinem Roman “Die Blindschleichenzange” lesen.
Vorneweg die Mutter, hinterdrein der kleine Bruder, in der Mitte die große Schwester, danach die schwarze Katze, dann ein Stück verschlammter Straße, dann ich.
Hügelaufwärts, rechts in die Kastanienallee, an der Auffahrt zum Lungenkrankenhaus vorbei, in den Wald hinein. „Aufpassen!“, hatte der Vater gesagt. „Nichts anfassen! Nichts essen! Nichts einatmen!“
Weil hier die Lungenkranken herumgingen und ihre Krankheit überall hinspuckten. Sie konnten nicht anders. Sie hatten immer Spuckreiz. Und in jedem ihrer Speicheltröpfchen Millionen Abermillionen Bazillen und Bakterien. Man musste es ihnen lassen, das im Wald Herumgehen und Spucken, weil es ihre einzige Lebensfreude war. Man musste aber höllisch aufpassen, sich nicht anzustecken, nicht so zu werden wie sie.
Den steilen Weg hinauf: das konnten die Lungenkranken nicht. Die Mutter gab uns ein Zeichen. Wir atmeten wieder, stürmten den Weg hoch, schrien vor Erleichterung, und rannten rannten rannten, weg von den Lungenkranken; während die Mutter, weit zurückgeblieben, sich auf eine Bank setzte und die Augen schloss.
So fanden wir sie, als wir zurückkehrten: im rotgeblümten Kleid, mit dem weißen gehäkelten Hut, sonnengebräunt. Sie schlug die Augen auf und lächelte den Bäumen zu. Blätter und Blumen liebte sie, und alle, die bunt durch die Luft flogen: den Stieglitz, den Gimpel, den Storch und das Eichkätzchen.
Ich wollte so gerne blühen! Oder Federn haben, um bunt durch die Luft zu fliegen! Aber ich gehörte zu den Bodentieren. Meine Knie knickten ein, ich fiel bäuchlings ins Laub.
Die Mutter stand auf: das Zeichen zum Weitergehen. Ich kam nicht hoch. Sie standen um mich herum. Alle waren größer als ich, die Mutter, die Schwester, sogar der Bruder, obwohl er erst drei war. Ich war zwei Jahre älter als er, aber ich konnte nicht mehr stehen, ich musste getragen werden.
Die Mutter sah zu mir her und ein paar Augenblicke lang glänzte ich unter ihrem zornigen Blick. Dann wandte sie sich ab. Ich wurde kalt und unbeweglich. Schließlich ging sie; und mit ihr die Geschwister.
Schwere Luft sammelte sich über mir und ich ließ den Kopf sinken, roch die nasse Erde. Sie gingen … sie drehten sich nicht um. Nur die schwarze Katze blieb stehen und wollte mir helfen. Sie setzte sich und streckte ihren Hinterfuß senkrecht nach oben. Und auf einmal konnte auch ich mich aufrichten, aufstehen und laufen. Und Anschluss finden an drei stumme Rücken.
Durch den Lungenkrankenwald. Am Parkplatz vorbei. Die Allee entlang.
Hügelabwärts blieb die Mutter stehen und deutete auf eine Stelle im Straßengraben: „Hier“, sagte sie und wartete auf mich, damit ich wusste, dass ich gemeint war — aber ich wusste sowieso schon, dass ich gemeint war.
Die Katze stellte die Ohren auf, duckte sich; ihre Nase zuckte, der Schwanz ging hin und her. Auf der anderen Seite des Straßengrabens raschelte es, und die Mutter wendete den Kopf. Im Laub ein blinzelndes Auge, ein Gezüngele, die Wellenbewegung einer fein geschuppten Haut. Eine Blindschleiche.
Wenn zu Hause, an der Auffahrt, die Blindschleichen in der Steinmauer lagen, war die Mutter entzückt darüber, wie geschickt sie sich in die Spalten zwischen den Steinen geschmiegt hatten. Wie sie in der Sonne glitzerten.
Aber wenn die Mutter in der Früh in den Garten ging, um die Wäsche aufzuhängen, mochte sie es nicht, auf die Blindschleichen zu treffen, die im taufeuchten Gras herum lagen. Die Blindschleichen mochten es vielleicht auch nicht, die Mutter zu treffen und spitze Schreie zu hören; aber weil bei ihnen morgens das Blut noch so langsam war, konnten sie nicht weg.
Die Mutter hatte eine Grillzange in eine Blindschleichenzange umgewandelt, indem sie die Zangenbacken gepolstert und die Griffe verlängert hatte. Mit diesem Gerät konnte die Mutter, ohne sich zu bücken, eine Blindschleiche um die Leibesmitte fassen und sie außerhalb des Gartens absetzen.
Die Mutter wollte sie aus dem Weg haben, weil sie Angst hatte vor ihren Bewegungen, vor dem Geschlängele. Die Blindschleichen wollten sich aber frei bewegen, sich schlängeln, wie es ihre Art war. Und sie brauchten etwas Festes unter ihrem Bauch, um sich wohlzufühlen. Sie mochten es nicht, hochgehoben zu werden, weg von der Erde.
Ich mochte es auch nicht, am Straßengraben zu stehen, neben der Mutter im rotgeblümten Kleid, die auf eine Stelle deutete. Ich hätte mich gerne in den Spalten zwischen den Steinen verkrochen. Aber da sagte sie schon: „Hier habe ich dich gefunden. Als du noch ganz klein warst.“
Hier also. Ein betoniertes Halbrund; darin Geröll, Laub, Zweige; trockene Nadeln, verhutzelte Brombeeren und feuchte Schlammschlieren – hier war ich her.
Die Backen der Blindschleichenzange legten sich, kalt und weich, an Bauch und Rücken; sie drückten zu, hoben mich hoch ins gleißende Nichts. Die Vögel schrillten, meine Finger spreizten sich. „WermutWermutWermut“, zählte ich in mir drin, und wie bei diesem unmäßig bitteren Tee half das Zählen, es auszuhalten: „Wermut Wermut Wermut“.
Manchmal, wenn die Mutter die Blindschleichen hoch hob – die Zange glänzte in der Sonne — wurde das Blindschleichenblut schneller und die Schleiche bewegte Kopf und Schwanz. Das, was sie eben bewegen konnte. Sie kroch in der Luft. Aber was am Boden elegant aussah, wirkte an der hoch gehobenen Blindschleiche lächerlich, hilflos: Bewegungen ins Leere hinein. Denn ganz gleich, ob sie starr blieben oder zappelten: alle Blindschleichen, die im Weg waren, wurden außerhalb des Gartens abgesetzt.
„Wermut Wermut Mut Mut“ Ich hielt still und bremste mein Blut, weil Zappeln sinnlos war. Ich tat so, als würde es mir nichts ausmachen, vom Boden weg gehoben und durch die Luft geschwenkt zu werden. Dabei hing ich an der Mutterzange mit einer wunden Wut und voller Sehnsucht nach Befreiung. Und ich schämte mich. Ich wusste aber nicht, warum.
Die Zange schwenkte mich. „Wermut Wermut- “ Sie ließ los. Ich fiel auf den Boden zurück, verkroch mich.
„Dich habe ich im Straßengraben gefunden.“ Sie sagte es hin und wieder, die Mutter. Manchmal böse, manchmal auch leichthin, so, als ob es nichts bedeutete. Aber es bedeutete, dass etwas mit mir nicht stimmte. Und dass ich deshalb ruhig sein sollte. Weniger Recht hatte. Es bedeutete auch, dass ich nicht ganz zur Mutter gehörte. Dass sie mich jederzeit zum Straßengraben zurückbringen konnte.
Schließlich hatte ich die Mutter gefragt, wo sie mich gefunden hatte. Hier also. Hier war ich entstanden. In dieser halben Röhre zwischen Straße und Wald. Ganz klein. Ein Steinderl, ein Klumperl, ein Zweigerl mit Brombeerkopf.
Die Katze sprang mit einem Satz über den Straßengraben, hieb ihre Krallen in die Rinde einer Tanne. „Und ich?“ fragte der Bruder. „Wo hast du mich gefunden?“
„Dich haben wir nicht gefunden“, beschied die Mutter, „du bist im Krankenhaus geboren worden.“
„Nein.“ Der Bruder zupfte die Mutter am Kleid: „Du erzählst Schmäh.“
Aber die Mutter wiederholte: „Du bist im Krankenhaus geboren worden.“
Das Brudergesicht verzog sich, Tränen liefen aus Augen und Nase, er plärrte.
„Was hat er denn schon wieder“, sagte die Mutter, ratlos, in den Himmel hinein. Sie sah uns nicht an, erwartete keine Hilfe von uns. Ohnehin gibt es keine Hilfe für eine Mutter.
Die Katze umkrallte die Tanne und kletterte an ihr hoch; sie ging gerne mit spazieren, aber das Stehenbleiben mochte sie nicht, dieses Menschenherumgestehe.
Schließlich nahm die Mutter ein Taschentuch und wischte dem Bruder das Nasse aus dem Gesicht.
Die Schwester warf ihre langen Haare zurück und wurde hugenottisch. Das machte sie, seit sie zehn war, und in die Hauptschule ging, und dort eine neue Lehrerin hatte. Die Lehrerin hatte die Schwester gefragt, ob sie von den Hugenotten abstammen würde, bei dem Familiennamen. Die Schwester hatte „Ja“ gesagt und kam aufgeregt nach Hause. Aber die Mutter sagte „Nein“, und der Vater sagte auch „Nein“. Der Bruder und ich zählten nicht. Also blieb die Schwester die einzige in der Familie, die von den Hugenotten abstammte.
Jetzt riss sie vom Haselnussstrauch einen Zweig ab und fächelte sich damit. „Hugenotten werden immer hoch oben geboren“, erklärte sie, „auf Baumspitzen, auf Berggipfeln.“
Die Schwester schaute zu den Bergen hin, ich starrte in den Straßengraben und dem Bruder lief der Rotz aus der Nase. Später erzählte er mir den Grund dafür: Im Krankenhaus waren doch die Lungenkranken, vor denen der Vater uns immer warnte. Der Boden war dort glitschig vor Spucke und in den Betten wimmelten Bazillen und Bakterien.
Die Mutter gab das Zeichen zum Weitergehen, und so gingen wir: vorneweg die Mutter, hinterdrein der verrotzte Bruder, in der Mitte die hochgeborene Schwester, dahinter die schwarze Katze, dann ein Stück verschlammter Straße, dann ich.
Ein paar Tage später ging ich allein zum Straßengraben, schob die Steine zur Seite, durchwühlte das Laub: hoffte auf ein anderes Menschenzweiglein, ein Straßengraben-Geschwister.
Als ich acht war, zog ich eine Schublade auf und fand in einer dicken Mappe meine Geburtsurkunde, auf der stand, dass ich im Maria-Hilf-Krankenhaus zur Welt gekommen war. Schnell schob ich die Schublade wieder zu; ich redete mit niemandem darüber; mir war den ganzen Tag schwindelig.
Die Geburtsurkunde half mir nicht. Die Mutter konnte mich trotzdem mit der Blindschleichenzange packen und im Straßengraben absetzen.
Manchmal rechnete ich damit. Manchmal traf es mich unvorbereitet. Und manchmal war die Mutter gar nicht da, und trotzdem hob mich etwas hoch und ließ mich zappeln.
Ich kam nicht weg von der Mutterzange. Sie war eine stärkere Verbindung als eine Umarmung.
Mit 16 warf ich der Mutter vor: „Im Maria-Hilf-Krankenhaus bin ich zur Welt gekommen, da stehts drin, in meiner Geburtsurkunde, und du hast immer gesagt, ich käm ausm Straßengraben!“
Die Mutter schaute nur kurz vom Kreuzworträtsel auf: „Wenn du meinst“, sagte sie, „dann bist halt im Maria-Hilf-Krankenhaus geboren.“
Aber was sollte ich mit einem Nonnen-Krankenhaus! Mit Neonröhren und Nabelschnur! „Das könnte dir so passen“, schrie ich die Mutter an, „mir so einen Scheiß Kreißsaal anzudichten! Du weißt genau, dass ich aus dem Straßengraben bin! Das hättest gerne, dass ich aus dir herausgekommen wär! Dabei hab ich nix, aber auch gar nix mit dir gemeinsam!“
Die Mutter füllte ihr Rätsel aus; sah nicht auf, sagte nichts. Weil einer Mutter nicht zu helfen ist.
Und ich stand da, mit hängenden Schultern, und schämte mich, weil meine Wut mich nicht trug. Weil sie sich auflöste und ich weich und wabbelig wurde.
Schließlich habe ich mich dem Straßengraben zugewandt. Und gemerkt, dass ich mit ihm tatsächlich enger verwandt bin als mit der Mutter.
Jetzt bin ich selbst ein Straßengraben. Ich bleibe neben der Straße, neben der Spur, und lass die Wasser durch mich hindurch rauschen: Gewitterregenfluten, Sturzbäche von geschmolzenem Schnee; ein Wallen, Tosen, Fließen, überall Strömen. Dann Sonnenhitze, Rinnsale, die versickern, Schlamm, Trockenheit. Was mitgespült wurde, lagert sich ab. Das Gesammelte zerbröselt, zerfällt oder verkrustet zu Mustern. Schließlich ein Wolkenbruch, ein Wassersturm, der alles löst und mit sich reißt, durch mich hindurch; bis ich mit allen Wassern gewaschen bin.
Eine Tür hoch wie ein Baum. Der Vater hielt sie uns auf – der Schwester, dem Bruder und mir. Drinnen ein dicker Vorhang. Wir suchten die Lücke zwischen seinen Hälften und schlüpften ins Dunkel. Hand an den Kopf, an den Bauch, linke Schulter, rechte Schulter: alles noch da.
Es wurde ein bisschen heller. Vor uns standen Leute. Die Sitzplätze alle besetzt, wie immer. Ganz vorne Licht. Da redete einer so laut, dass man es auch hier hinten hörte. Verstehen konnte ich es nicht.
Die Hand ins kalte Waschbecken hinein, mit dem Wasser übers Gesicht gewischt: Ah! Es schüttelte mich. Und nochmal: Ah! Und Ah!
Bis die Vaterhand mich wegzog und kurz festhielt, bevor die Vaterhände sich wieder aneinander legten, so, dass jeder Finger an seinem Zwilling lehnte und ihm gleichlang war. Ich tat es dem Vater nach. Die Fingerspitzen sollten nach oben zeigen. Man durfte sie an der Nase ablegen. Vor dem Mund entstand eine kleine Höhle; ich hauchte Wärme hinein.
Vor mir Hosenbeine, Strumpfbeine, Röcke, Mäntelrücken, Jackenrücken, gebeugte Köpfe. Musik füllte meine Ohren, den Kopf, die Brust, und drang bis zu den Knien – nur die kalten Füße konnte sie nicht erreichen.
Auf dem Fußboden gab es rote und graue Karos. Hoch oben waren bunte Fenster und Bilder. „Nur Narrenhände bemalen Tisch und Wände“, sagte die Großmutter. Hier hatte die Narrenhand sogar die Decke angemalt.
„GrooßerGoott wir looben dich“, sangen sie vorne. Hier hinten wurde zögerlich mitgemacht. Allein der Vater sang sehr laut: „GrooßerGoott-“ Dann redete wieder einer: Martha sollte etwas nicht tun: „Martha tu mir nie donapronobis.“
Stillstehen, nach vorne gucken. Alles andere hatte der Vater verboten: Auf einem Bein von Karo zu Karo hüpfen. Die gedoppelte Fingerspitzenlanze der Schwester zwischen die Rippen stoßen. Mit der hohlen Hand aus dem Waschbecken schöpfen und dem Bruder Eisigkaltes in den Nacken schütten.
Alles passierte dort vorne, hier hinten nichts. Nur einmal kam der Mann mit dem langen Stecken vorbei. Er hielt ihn waagrecht; am Ende baumelte ein Sparschwein aus Stoff. Die Fläche obendrauf war glatt und golden, mit einem Schlitz darin. In den Schlitz steckten alle Geld rein. Der Bruder, die Schwester und ich, wir wollten auch Geld reinstecken und der Vater gab jedem von uns ein Stück. Wir freuten uns, dass wir endlich etwas tun konnten. Der Vater freute sich, dass wir dem Mann Geld in sein Sparschwein stecken wollten. Er streichelte uns über die Haare und sah aus, wie wenn die Großmutter ihm ein Stück Apfelstrudel hinstellte.
Dann passierte wieder lange nichts. Stillstehen, Nichtstun. Dieses Erwachsenenherumgestehe. Aber man musste es dem Vater lassen, dieses Warten im Dunkeln am Sonntag; weil er auf etwas Schönes wartete. Während ich mich langweilte, sah er zufrieden aus, und seine Augen leuchteten. Ich lehnte mich vorsichtig an ihn, drückte mein Gesicht an den rauen Stoff seiner Hose, roch sein Haarwasser und war kurzzeitig getröstet.
Abends, wenn er im Schaukelstuhl saß, durfte ich den Vater kämmen. Ich stellte mich auf den Hocker und fuhr mit dem Kamm durch seine Haare wie durch ein schwarzes Gewässer. Hierhin und dorthin warf ich die Wellen, und ließ das Wasser hoch spritzen. Die Wassersträhnen gehörten zum Vater; sie hatten aber auch ein Eigenleben, etwas Ungestümes. Sie liebten es, von mir zerzaust zu werden.
Ich schaute am Vater hoch: jetzt lagen seine Haare glatt und gescheitelt. Der Vater blieb nicht lange wild. Wenn ich mit dem Kämmen fertig war und vom Hocker kletterte, nahm er den Kamm und strich die Haare wieder dorthin, wo sie vorher gewesen waren.
Wenn die Messe nur nicht so lange gedauert hätte! Wenn ich wenigstens gewusst hätte, was sie hier redeten! Aber der Vater erzählte nie davon. Er murmelte nur für sich.
Die Großmutter meinte, er würde beeten. Sie machte das abends mit uns, wenn wir bei ihr übernachteten: Wir lagen dabei im Bett, die Rosen der Großmutter wuchsen im Beet und Gott hatte anscheinend auch ein Beet, in das man Worte legen konnte, die dann zu ihm in den Himmel hoch blühten. Beeten war Reden mit Gott; erzählen, wie der Tag war. Was gut gewesen war, was schief gegangen war. Ihn um etwas bitten, einen Wunsch sagen. Und manchmal pflückte er so einen Wunsch und erfüllte ihn.
Vielleicht standen die Leute alle hier, weil sie hofften, dass Gott ihre Wünsche erfüllte. „GrooßerGott wir looben dich.“ Vielleicht gab es einen großen und einen kleinen Gott. Der große Gott kam hierher, weil er viel Platz brauchte. Der kleine Gott besuchte die Leute zu Hause; er konnte aber nur die kleinen Wünsche erfüllen.
Jetzt stellten sich alle Erwachsenen an, um nach vorn zu gehen, und Gott ihre großen Wünsche zu sagen. Auch der Vater ging. Kaum hatte er uns den Rücken gekehrt, löste ich die Schürzenschleife der Schwester und der Bruder setzte sich auf den Boden, weil er nicht mehr stehen konnte. Die Schwester wollte mich zwicken; ich versteckte mich hinter einer dicken Frau, die böse zischte: „Ja, habt‘s ihr keine Manieren!“
Dann kam der Vater wieder. Er hatte dem großen Gott seine Wünsche erzählt und sah zuversichtlich aus. Aber der Großvater sagte: „Es gibt keinen Gott.“ Auch die Großmutter glaubte nicht an Gott. Sie beetete nur zu ihm, weil sie es sich nicht abgewöhnen konnte. „Schadet ja nicht“, sagte sie, „wenn es eh keinen Gott gibt. Und wenn es vielleicht doch einen gibt, na, dann haben wir wenigstens gebeetet.“
„Wenn es keinen Gott gibt, wer erfüllt dann die Wünsche?“, fragte ich sie.
„Irgendein anderes Wesen.“ Die Großmutter machte eine ausladende Handbewegung zum Himmel, wo es anscheinend viele gab, die Wünsche erfüllen konnten.
Hier in der Kirche waren Wolken an die Decke gemalt und Menschen in langen Kleidern; oder waren das die anderen Wesen? Kamen die Leute auch wegen ihnen in die Kirche oder nur wegen Gott?
Der Vater kam wegen Gott. Der Großvater wollte ihm das ausreden. „Es gibt keinen Gott“, sagte er nach dem Essen, immer erst nach dem Essen, „kannst du das nicht einsehen, Hans? Schau, wenn es einen Gott gäbe, würde er sich zeigen. Zum Beispiel würde er jetzt wie ein Blitz in die Lampe fahren.“ Er deutete auf die Küchenlampe: ein gläserner Lampenschirm, der von der Decke hing, mit einer Glühbirne darin, die geduldig auf den Blitzstrahl Gottes wartete.
Alle schauten auf die Lampe: der Bruder, die Schwester, die Mutter, die Großmutter, der Großvater und ich. Die ganze Großelternküche schaute auf die Lampe. Der Diwan, der Kohlenherd, die Abwasch. Die Kredenz, der Tisch, die Salatschüssel, aus der wir die Fisolenbohnen gegessen hatten, der Topf mit dem übrig gebliebenen Schweinefleisch. Die leer gegessenen Teller, die Messer und Gabeln. Auch die kleinen Löffel, die noch nicht benutzt waren und ganz blanke Gesichter hatten. Wir alle schauten zur Küchenlampe hoch, um zu sehen, ob der Blitz in sie fahren würde.
Nur der Vater schaute nicht hin. Er murmelte: „Gott zeigt sich – aber nicht so, wie du es willst.“ Das Vatergesicht war rot geworden bis zum Hemdkragen.
„Du musst das doch verstehen“, sagte der Großvater begütigend, „dass die Menschen sich Gott nur ausgedacht haben – früher, als sie es nicht besser wussten. Und jetzt ist es an der Zeit, diesen Glauben abzulegen wie einen alten Mantel, der zu eng geworden ist. Uns zu befreien von dieser Unterwürfigkeit, von diesem Aufschauen zu einem, der vorgibt, was gut und was böse ist.“
„Und außerdem“, sagte die Mutter, „ist kein Apfelsaft mehr da.“ Der Vater und der Großvater sprangen gleichzeitig auf, um welchen aus dem Keller zu holen; freundlich stritten sie darum, wer gehen durfte; schließlich durfte der Vater, weil er die jüngeren Beine hatte.
Der Vater mit seinen jungen Beinen und dem Gottesmantel stand unermüdlich in der Kirche; ich hätte lieber Apfelsaft geholt. Die gewundene Stiege hinunter, den Kellergeruch gerochen: Seifenlauge, Kohle, Erde. Mit beiden Händen in der Sandkiste gewühlt, eine Karrotte ausgegraben und wieder versenkt. Das glatte Rund eines Einsiedeglases voller Paradeiser mit dem Finger nachgefahren.
„Der Hans ist doch sonst so vernünftig“, sagte der Großvater, während der Vater im Keller war. „Ein gescheiter Mensch, wirklich gescheit. Wenn er es nur nicht so mit der Religion hätte!“
„Ist doch wurscht, Papa“, sagte die Mutter, die am Sonntagmorgen immer zu Hause blieb, und der es genügte, ein paar flache Götter im Geldtaschl zu haben: den Heiligen Antonius, die Heilige Katharina und den Franz von Assisi. Sie ging nur zu Weihnachten in die Kirche, alleine, um Mitternacht; und hinterher schwärmte sie: „Diese Musik! Ein Sanatorium.“
Wenn der Vater mit dem Apfelsaft zurückkam, wurde er von allen nett behandelt und bekam ein besonders großes Stück Apfelstrudel, zum Trost, weil sein Gott sich nicht gezeigt hatte.
Jetzt mussten wir ein Knie auf den kalten Kirchenboden legen. Das andere durfte oben bleiben, darauf stützten sich die gefalteten Hände. Ich wählte zum Ablegen immer ein rotes Karo, weil die roten weicher waren als die grauen.
Wenn ich groß war, würde ich es wie die Großmutter machen. Das Beeten im weichen Bett mochte ich; ich hatte gerne jemanden, mit dem ich sprechen konnte und der meine Wünsche erfüllte. Ein Wesen, das vielleicht nur aus Luft und Wolken bestand, aber trotzdem für mich da war und mir zuhörte.
Jetzt durften wir wieder aufstehen. Ich rieb mir das rote Knie. Dann sagten alle zusammen: „Abend“, immer wieder: „Abend“, als Antwort auf etwas, was jemand da vorne sagte. Vielleicht war es eine Verabredung mit Gott: „Am Abend sprechen wir uns wieder.“ Vielleicht bedeutete es auch etwas anderes. Ich traute mich nicht, den Vater danach zu fragen. Wenn man ihn das Falsche fragte, brüllte er.
Nur beim Großvater brüllte er nicht, obwohl der immer wieder versuchte, ihm Gott auszureden. Der Großvater gab nicht auf, weil er schon erlebt hatte, dass sich mächtig was verändern kann. Als er jung war, gab es einen Kaiser und der Großvater war Untertan und musste jeden Tag 12 Stunden arbeiten. Jetzt gab es einen Kreisky, der ein Sozialistenbruder war und der Großvater musste gar nicht mehr arbeiten. Der Großvater hatte mit dafür gestritten, dass es so gekommen war, und er meinte, dass man nur genug mit dem Vater reden musste, dann würde der den Gottesmantel schon ausziehen.
Und wenn der Pfarrer genug geredet hatte, dann war die Messe endlich aus. Ich war als erste draußen, hinter mir die Schwester und der Bruder. Wir rannten die Stiege runter und hüpften so fest auf dem weißen Kies, dass es bis in die Knie hinein knirschte. Wir spielten Fangerl um den runden Brunnen herum, kletterten auf den steinernen Löwen, strichen ihm über die starren Locken und pressten uns an seinen breiten Rücken.
Alle kamen aus der Kirche; der Hof füllte sich mit Menschen. Der Vater grüßte und redete nach links und nach rechts; wir warteten ein bisschen; dann zogen wir ihn am Rock, und er folgte uns willig zum Auto.
„Magst mit?“ fragte die Mutter.
Sofort setzte ich mich auf den Stufenabsatz und zog mir die Schuhe an. Ich fragte nicht, wohin. In mir hüpfte ein roter Ball. Ich durfte mit. Nicht die Schwester.
Wir fuhren ins Nachbardorf, stellten das Auto dort ab, wo sonst der Vater für den Kirchgang parkte. Zwei Nonnen gingen an uns vorüber und verschwanden hinter den Klostermauern. Gleich neben dem Stift war der Stiftskeller: das Schild zeigte schräg nach unten. Auf dem Schild saß eine Amsel und flötete. Als wir näher kamen, flog sie davon, in den Himmel hinein; und wir gingen eine lange Stiege hinunter.
Der Eingang war hoch genug, trotzdem zog die Mutter den Kopf ein, als sie die Tür öffnete; so als ob wir einen gebuckelten Ort betreten würden. Einen Schiffsbauch. Schiffskeller.
Zigarettenqualm. Dicke Tische wie auf der Alm. Zwei Spielautomaten blinkten. Die Musikbox spielte. Ich wusste sofort, dass hier eine ganz andere Welt war. Auch eine Art Kloster. Ähnlich verborgen und fremd. Aber zudem noch rau und verheißungsvoll.
Alle saßen an der Theke; die Köpfe drehten sich zu uns her, wie bei den Kühen, wenn man in einen Stall kam. Lauter Männer-Köpfe. Einer sagte etwas, die anderen nickten. Schweigend starrten sie uns an. Vielleicht saßen sie schon seit Jahren hier aufgereiht und käuten wider; und waren es nicht gewohnt, dass jemand Neues dazukam.
Die Mutter schaute zu den Männern hinüber und grüßte; sie wirkte plötzlich leichter, zierlicher. Als ob ein Wind sie davontragen könnte.
Es kamen gemurmelte Grüße zurück, wie eine Erlaubnis; und wir setzten uns. Kurze Zeit später stellte der Wirt zwei volle Weingläser vor uns ab: „Vom Stader Matthias.“
Die Mutter lächelte fremdländisch hinüber ins andere Gebiet. Ein Mann löste sich aus der Reihe und schlenderte auf uns zu.
Er kam näher, wurde größer, massiver, setzte sich. Stellte sein Weinglas zu unseren. Es kam mit einem leisen „Tock“ auf dem Tisch an. Der Wein leuchtete in allen drei Gläsern gleich rot.
„Na, zwei Frauen so ganz alleine hier?“
Ich starrte den Mann an. Es war das erste Mal, dass mich jemand den Frauen zuordnete. Ich schwankte zwischen Stolz und Scham.
Die Mutter plauschte mit ihm. Vorsichtig nahm ich einen Schluck Wein. Ich hatte schon mal welchen gekostet, aber noch nie ein ganzes Glas für mich gehabt. Er glitzerte in mir. Ich trank noch mehr. Der Wein legte ein Flusssystem an: Ich konnte spüren, wie er in Mäandern bis in die Füße lief; und, entgegen der Schwerkraft, in den Kopf hinein.
Ich schielte zur Mutter. Die schaute auf den Mann. Ich nippte weiter vom Wein. Es wurde lustig in mir.
„Sagen wir ruhig ‚Du‘“, sagte der Mann, „Matthias.“
„Margot“, stellte die Mutter sich vor. Der Matthias-Mann legte den Arm um sie. Eine Margot blühte aus der Mutter heraus, neigte sich zum Matthias, fand bei ihm Halt im schwankenden Schiffskeller.
Wir waren unterwegs auf hoher See, fuhren in den Himmel hinein, die Schluchten hinunter. Ein Schwindel, ein Übermut. Ich hielt mich an meinem Glas fest. In mir breitete sich das Rot aus, Wein wurde Blut.
„Trinkt von meinem Blut“, sagte Jesus, der vom Kloster nebenan herüberströmte.
„Sei mir eine feste Burg“, antwortete ich. Aber auch er schwankte auf den Schiffskellerwellen.
In der Kirche durfte ich das Blut Jesu nicht trinken; das durften nur Erwachsene, weil es Wein war. Aber jetzt durfte ich es doch. Ich trank all das Blut aus Jesus heraus, bis er ganz weiß war und in Scheiben zerfiel. Jede Scheibe wurde auf eine Zunge gelegt.
Mein Mund schloss sich über der belegten Zunge; Jesus klebte am Gaumen. Er war pappig. Ich konnte ihn nicht hinunterspülen; mein Glas war plötzlich leer.
Matthias machte eine Handbewegung; eine Aufforderung zum Tanz. Und wirklich, der Wirt kam angetanzt und stellte ein neues Glas Wein vor mich hin.
Eine Bürde. All das Rot. Mir war übel.
Da sagte die Mutter: „Gib ihr nichts mehr, sie verträgts doch nicht!“, und aus schönem Trotz ergriff ich das Glas und prostete Matthias zu.
Er lachte; Margot zuckte mit den Schultern.
Ich nippte nur, stellte das Glas wieder hin. Angst rührte sich in mir. Die Mutter, sie sollte mir den Wein wegnehmen und mit mir fort gehen. Ich konnte nicht mehr.
Aber die Mutter war davongeflossen. Es saß nur mehr Margot da, mit fremdem rotweinigen Gesicht, eine Gallionsfigur mit unbekanntem Ziel.
Ich wollte die Mutter wieder haben. Ich nahm einen Schluck Wein, ließ ihn im Mund, bis er ganz sauer war; schluckte und es kribbelte. Ich wollte wieder glitzern; stattdessen vertrocknete ich. Der Stiftskeller schrumpfte zu einem Schiff in einer Weinflasche, und ich war mit eingesperrt.
Endlich strandete Margot. Die Mutter schaute auf die Uhr, mit Ehefrauenaugen: „Schon so spät!“
Ich stand gleich auf, gehorsam, schaute den Wein nicht mehr an, Matthias auch nicht. Mir war schlecht, ich fühlte mich pappig. Der Boden gab unter meinen Füßen nach; ich stand auf einer Zunge. Über mir wölbte sich ein weißer Gaumen, blutleer.
Wir gingen lange lange die Stiege hoch. Meine Füße bleischwer. Ich wollte weinen.
Im Auto sagte die Mutter: „Was erzählen wir denn jetzt daheim?“, und sofort war ich wacher. Wir hielten an einer Ampel, die Mutter schaute zu mir hin; wir sahen uns an wie zwei Frauen auf geheimer Mission.
„Wir waren bei einem Geburtstag“, sagte ich.
„Gute Idee“, meinte die Mutter, „und zwar bei …“
„Ulla“, ergänzte ich, „sie wohnt in Struck; gleich am Ortseingang. Wir haben Verstecken gespielt. Ich hab mich im Keller versteckt, hinter dem Regal mit den Einsiedegläsern, und niemand hat mich gefunden.“
„Sehr gut.“ Die Mutter lächelte. Wir waren jetzt in derselben Geschichte, verbargen uns hinter den Einsiedegläsern – eingelegte Gurken, Bohnen, Paradeiser — und schauten zwischen ihnen hindurch auf den Stiftskeller. Wir sahen das Glitzern der Wellen, den Bug des Schiffes auf rauschender Fahrt. Der Vater aber würde nur das Gemüse sehen.
Den Abfall holte die Frau Franz. Sie war eine Frau, sah aber aus wie ein Franz. Sie war häßlich; es blieb ihr nichts anderes. Es gab nur eine robuste Männerschönheit und eine zierliche Frauenschönheit und für so eine wie Frau Franz war nichts an Schönheit übrig.
Sie hatte einen zerwuselten Lockenkopf, mächtige Oberarme, und trug, wie die anderen Arbeiter in der Fabrik, eine Arbeitsmontur, die meistens mit Russ und Öl verschmiert war.
Sie war fürs Putzen eingestellt. Sie putzte aber nur in der Halle; wenn sie damit fertig war, arbeitete sie an den Maschinen mit. Sie sollte auch die Büros putzen; das tat sie nie. Deshalb mussten die Sekretärinnen das tun: zwei Frauen, die auch so aussahen, und die nur widerwillig ihre lackierten Fingernägel ins Seifenwasser tauchten. Die Sekretärinnen beschwerten sich beim Vater über Frau Franz.
Der Vater sprach mit der Frau Franz, aber es änderte sich nichts. Er konnte sich nicht durchsetzen. Wenn er beim Mittagessen davon erzählte, meinte die Mutter: „Dann musst du ihr halt kündigen.“ Der Vater konnte nicht kündigen. Er konnte schreien und schimpfen und mit der Faust auf den Tisch hauen – aber kündigen konnte er nicht. Alle Leute, die er vor Jahren eingestellt hatte, arbeiteten immer noch für ihn; sie kannten uns Kinder seit der Geburt.
Die Frau Franz blieb also und holte regelmäßig den Abfall ab, den wir zuvor in eine Schachtel geworfen hatten. Die Schachtel stand neben der Stiege unter dem Dachvorsprung und war so groß wie ich. Es gab hunderte von diesen Schachteln in der Fabrik, weil die Ölöfen darin transportiert wurden. Frau Franz brachte eine leere Schachtel mit, schubste die volle auf die Sackkarre und fuhr sie über die Straße und hinters Fabrikgelände. Dort kippte sie sie aus und verbrannte den Abfall.
Wenn ich Essen übergelassen hatte und die Mutter es wegwerfen musste, sagte sie immer: „Wenn die Frau Franz das sieht!“ Sie füllte das Essen in ein Plastiksackerl, und steckte das in ein zweites Plastiksackerl; genau wie bei den leeren Weinbrandbohnen-Packungen.
Dabei waren die Sackerln kein Schutz vor Frau Franz, weil sie im Abfall herumstocherte, damit er besser brannte. Mit ein wenig Schürhaken-Geschicklichkeit konnte sie herausbekommen, was wir verderben ließen, was wir kaputt gemacht hatten; welches Shampoo wir verwendeten und wieviele Unterhosen mir zu klein geworden waren. Die Dinge, die man los sein wollte, waren erst noch den prüfenden Blicken von Frau Franz ausgesetzt. Sie war die letzte Instanz.
Manches warf ich deshalb erst gar nicht in den Müll: Das Englischbuch der Schwester, auf dem ich Tinte verschüttet hatte. Der Gürtel der Mutter, der beim Kampf der Titanen entzwei gerissen war. Das Einwickelpapier der Schokolade, die ich im Kaufladen gestohlen hatte. Ich musste sie anders loswerden.
Meistens warf ich verräterischen Müll, zusammen mit Laub und Zweigen, in die Schlucht. Zwischen der Garage und dem Nachbargrundstück gab es einen Abgrund, ein paar Meter tief. Das war unsere Schlucht. In ihr konnte man Dinge verschwinden lassen. Aber auch das war nicht ganz sicher. Denn es gab einen Zugang zur Schlucht, und wenn Frau Franz nach Hause ging, kam sie daran vorbei. Er war zwar von dornigem Gestrüpp versperrt; davon würde sich Frau Franz jedoch nicht aufhalten lassen, wenn sie auf der Suche nach Geheimnissen war.
Bis jetzt hatte sie allerdings noch nie etwas ausgeplaudert. Vielleicht, weil sie selbst ein Geheimnis hatte. Milena behauptete das.
Eines Tages traf ich die Frau Franz, als ich zum Eislaufen ging. Das Tor zum hinteren Fabriksgelände stand offen. Das Müllfeuer brannte und hatte ringsum den Schnee aufgefressen und mit heißer Zunge den Hang hoch geleckt. Es qualmte schwarz und roch giftig. Und da stand Frau Franz, in der Arbeitsmontur, das Feuer leuchtete ihr ins Gesicht und die Flammen schienen in ihren Haaren weiter zu flackern.
Sie bemerkte mich und winkte mir. Ich zögerte; dann ging ich zum Feuer und stellte mich neben sie. Ein Augengruß ging zwischen uns hin und her.
„Gehst Eis laufen?“
Ich nickte. Sie warf neuen Abfall ins Feuer; es sackte zusammen und stieß dicke, dunkle Rauchwolken aus, wie der Vulkan in meinem Erdkundebuch. Frau Franz stocherte in den Glutnestern, dann riss sie ein Stück Pappendeckel in Streifen und brachte damit wieder Flammen hervor.
Ich sah selten offenes Feuer. Eigentlich konnte ich mich nur an zwei Mal erinnern: als der Wald dicht hinter unserem Haus gebrannt hatte und der Feuerwehrmann es vom Fenster im ersten Stock aus gelöscht hatte. Und als der Weihnachtsbaum Flammen gefangen hatte. Die Mutter warf ihn zum Fenster hinaus, am nächsten Morgen lag sein schwarzes Gerippe im Schnee.
Alle anderen Feuer, die größer waren als eine Kerzenflamme, wurden vom Vater in Metallkästen eingesperrt oder waren ganz verboten. Alles, was der Vater erfand und konstruierte, hatte mit Feuer zu tun: Ölöfen, Aktenverbrenner, Kamine, Grillgeräte, meterhohe Fabrikschornsteine. Gleichzeitig hatte er eine würgende Angst vorm Feuer. Jeden Tag fühlte er sich davon bedroht. Nur die Frau Franz durfte ein offenes Feuer haben. Warum ausgerechnet sie?
„Es wird bald tauen“, sagte sie, „ich spür’s in den Knochen.“
„Wo?“, fragte ich, weil ich nichts spürte.
„Hier“, sie hielt mir ihre schwielige linke Hand hin, „und hier.“ Sie klopfte sich auf den Hintern.
Ich wurde rot, schaute schnell weg. Sie war unverschämt.
Milena hatte erzählt, dass Frau Franz mit einer Frau zusammen wohnte. Sie hatten ein Haus am Ende des Nachbardorfes und lebten dort pervers. „Wie Mann und Frau – verstehst du?“
Ja, ich verstand. Es bedeutete, dass sie miteinander ins Bett gingen, Sex hatten. Nur, wie das bei zwei Frauen funktionierte, das wusste ich nicht. Im Wörterbuch stand bei „pervers“: „Andersartig veranlagt, besonders in sexueller Hinsicht“.
Verstohlen beobachtete ich Frau Franz: konnte man das erkennen, dass sie in sexueller Hinsicht besonders war? Andersartig, ja, das sah man. Nicht artig.
Wie die andere Frau wohl aussah? Ich stellte mir eine zweite Frau Franz vor, auch in der Montur, und nach der Arbeit machten sie ein Lagerfeuer in ihrem Garten; mit Holz, das sie selbst im Wald geschlägert hatten. Es krachte und knackte; die Funken stoben hoch in den Himmel hinein.
Vielleicht durfte Frau Franz deshalb hier Feuer machen: weil sie besonders war. Aus der Art geschlagen. Mir gefiel diese franzige Feuerfreiheit.
„Ich mag es, wenn es brennt“, sagte ich.
Frau Franz lachte: „Gut so“
Ich war auf einmal ganz leicht; winkte und lief zum Tor hinaus. Die Schlittschuhe fest an mich gedrückt, rannte ich den ganzen Weg bis zum Mühlteich, und war wie berauscht.