Sie hat mir ihre Schlüssel gegeben! Ich versuche, mir mein Entzücken nicht anmerken zu lassen. Während ihrer Erklärungen zum Gießen habe ich das Gefühl, dass ihre Worte nicht nur ihren Blumen, sondern auch mir gelten: “Das Wasser bitte immer handwarm”, oder “Die Pflanzen im Schlafzimmer nicht vergessen.” An das Schlafzimmer denke ich bestimmt.
“Der Frauenfarn braucht besonders viel Wasser.” Ich nicke wissend. Wasser, ein Symbol für Liebe. Beide fließen und sind lebensnotwendig. Und auch nach Wasser muss manchmal gebohrt werden, damit es zum Vorschein kommt. “Für die Orchidee nur weiches Wasser nehmen”, sagt Sonja, und sogleich fühle ich mich der Orchidee verwandt. Sie ist blau und im Blumentopf steckt ein Schild mit ihrem Namen: “Vanda blue magic”. Ob Sonja mir mit diesem Schild eine Botschaft zukommen lassen wollte? Ich habe auf jeden Fall das prickelnde Gefühl, dass ich blue magic bald erleben werde.
“Du musst mit den Fingern überprüfen, ob das Substrat noch feucht ist.” Jetzt werde ich, im Gegensatz zur Orchidee, rot, und täusche Husten vor, damit ich mich abwenden kann. “Na, das wird dir vielleicht alles zu viel”, sagt Sonja und ich fühle mich durchschaut. “Könntest du es mir aufschreiben?” “Ja, das wird das Beste sein.” Ich lächle, und weiß, dass ich dieses Blatt an meinem Herzen aufbewahren werde.
Sie lächelt nicht. Sonja, das klingt nach Sonne und Ja!, aber leider bleibt sie ein ferner kühler Mond, auch als sie sich von mir verabschiedet. Es ist sicher nur Fassade, sage ich mir. Sie ist wahrscheinlich zu schüchtern, um mir ihre wahren Gefühle zu zeigen. Immerhin habe ich jetzt, nachdem ich monatelang um sie herum geschlichen bin, ihre Schlüssel! Zwar nur deshalb, wie sie mir erklärt hat, weil alle ihre Freund*innen auch im Urlaub sind, und ihr niemand anders fürs Blumengießen eingefallen ist. Das klang nicht sehr schmeichelhaft. Aber so eine ungeschickte Formulierung soll unserem Glück nicht im Wege stehen.
Zu Hause befreie ich die zwei Schlüssel von der hässlichen braunen Schnur, mit der sie verbunden waren. Der klobige Haustürschlüssel lässt mich kalt; ich klemme ihn an meinen Schlüsselbund. Aber Sonjas Wohnungsschlüssel! So ein bezauberndes Kleinod mit reizenden Zacken und einem schmalen Köpfchen! Was mache ich mit ihm? Ich würde ihn ja gerne an einem roten Band um den Hals tragen, befürchte aber Nachfragen. Schließlich stecke ich ihn in meine Hosentasche. Dort kann ich immer nach ihm tasten, und ihn manchmal heimlich herausholen und küssen.
Gleich am nächsten Tag mache ich mich auf den Weg. Sonjas Haus, Teil eines 60er Jahre Wohnblocks, liegt von der Straße zurückgesetzt. Ein kleiner Weg führt an zwei anderen Häusern vorbei zum Eingang. Ich bin so aufgeregt. Was, wenn sie mir einen Liebesbrief hinterlassen hat? Und was, wenn sie mir keinen Liebesbrief hinterlassen hat? Die Haustür wirkt auf einmal sperrig. Und Sonja so unerreichbar.
Ich hole den Schlüssel aus meiner Hosentasche, um mir Mut zu machen. Ich muss an mich glauben. Wenn ich mich liebenswert finde, wird Sonja es doch wohl auch tun. Oder? Plötzlich räuspert sich jemand, ein Riese ragt neben mir auf, ich erschrecke, und Sonjas Schlüssel springt aus meiner Hand. Er stürzt — nicht auf den Gitterrost, sondern geradewegs durch eines der Löcher hindurch.
Sofort falle ich auf die Knie. Da liegt er, mein Liebesschlüssel, im Untergrund. “Oh nein”, rufe ich, “oh nein!” Der Gitterrost, ein massives Ungetüm, ist mit acht Schrauben befestigt, die so aussehen, als seien sie seit den 60er Jahren nicht mehr bewegt worden. Verzweifelt schaue ich zu dem Mann hoch, der dieses Desaster ausgelöst hat. Er hält auch einen Schlüssel in der Hand, und ich begreife, dass er hier wohnt und meine Rettung sein könnte.
Rasch stehe ich auf. “Könnten Sie vielleicht — so nett sein und einen Schraubenzieher aus Ihrer Wohnung holen?” Er schüttelt den Kopf. Dann holt er etwas Blaues aus seiner Hosentasche und hält es mir unter die Nase. Barsch erklärt er: “Immer dabei!”. Er lässt sich auf ein Knie nieder, rollt den blauen Stoff aus und erfreut erkenne ich, dass es ein Schraubenzieher Set ist. Mit Händen, die ungefähr doppelt so groß sind wie meine, schraubt der Mann mühelos die rostigen Schrauben heraus. Ich seufze vor Erleichterung. “Danke”, sage ich. Gleichzeitig fühle ich mich ein bisschen unwohl mit ihm. Er hat so etwas Unzugängliches.
Nachdem er die letzte Schraube raus gedreht hat, greift er lässig mit einer Hand in das Gitter hinein und hebt es hoch. Ich schnappe mir den Schlüssel und stecke ihn sofort ein. Jetzt kann doch noch alles gut werden. “Vielen, vielen Dank”, sage ich. Er gibt einen zufriedenen Laut von sich, und legt das Gitter zurück an seinen Platz. Da passiert etwas in seinem Gesicht, ein Anflug von Unsicherheit, der in Ärger umschlägt.
“Scheiße”, murmelt er, und dann lauter: “So eine Scheiße!” Es dauert eine Sekunde, bis ich begreife, dass er mit seinen Fingern im Gitter feststeckt. Er schaut mich vorwurfsvoll an, ich weiche zurück. Ich möchte eigentlich nicht so viel mit ihm zu tun haben, aber ich kann ihn ja nicht hier stecken lassen. Ich rate ihm: “Versuchen Sie doch mal ganz ruhig …”
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