Ich habe den Verdacht, dass bei der Erfindung der Rolltreppe nicht nur die Idee einer Personen-Beförderung von einem Stockwerk ins andere eine Rolle gespielt hat, sondern auch oder sogar hauptsächlich ein Beziehungsdrama. Jedenfalls ist es das, was mir in den Sinn kommt, wenn ich den Verlauf einer Fahrt auf der Rolltreppe betrachte .
Etwas Neues erscheint, lädt dich ein, bietet dir eine Plattform. Du steigst darauf ein, folgst ihr, schwebst, immer höher, mit Leichtigkeit, auf einer stabilen Grundlage, die dann plötzlich spurlos im Boden verschwindet wie nie dagewesen. Du wirst einfach runter geschubst, stolperst, fällst womöglich. Es läuft nicht mehr. Es ist aus.
Weil der Erfinder der Rolltreppe eine abrupte Trennung nicht verarbeiten konnte, hat er sie materialisiert. Und seither müssen täglich Tausende und Millionen von Menschen dieses Drama nacherleben. Allerdings haben mittlerweile die meisten gelernt, rechtzeitig die Füße zu heben, elegant abzusteigen und weiterzugehen, zur nächsten Rolltreppe.
Es ist gut möglich, dass das Benutzen von Rolltreppen die Lebensform der seriellen Monogamie begünstigt. Eine gewisse zeitliche Parallele ist vorhanden und auch die Tatsache, dass beide Phänomene eher in Städten vorkommen, untermauert meine Theorie.
Ich habe immer ziemlich viele Theorien. Das hilft mir im täglichen Leben aber nicht unbedingt weiter. Im Gegenteil. Wahrscheinlich tun sich Leute, die beim Anblick einer Rolltreppe nicht an ein Beziehungsdrama denken, leichter damit, sie zu benutzen. Während ich immer noch am Fuße der Rolltreppe stehe und den Flächen zusehe, wie sie sich zur Stufe erheben und in die Höhe gleiten. Vielleicht hat der Erfinder der Rolltreppe auch eine Nachahmung von Meereswellen angestrebt. Diese sind allerdings ziemlich plump geraten.
Wie auch immer, ich muss zum Zug und der Aufzug ist kaputt. Ich warte, bis ich alleine bin, setze einen Fuß auf und den zweiten daneben — es ist eigentlich ganz einfach. Die Rolltreppe ist wahrscheinlich eines der ungefährlichsten Verkehrsmittel.
Bruder
Wilde Wolken zerfetzen den Himmel, Sturmwind treibt und wirbelt, kein Platz für meine Traurigkeit, der Wind reißt alles mit, Blätter, Zweige, lose Ziegel, festgehaltene Gedanken … meine Bettdecke wird hoch gehoben und weg gerissen. Ich bleib zitternd liegen, schau zum Himmel, da fliegt sie, meine Decke mit dem roten Bezug, der mir der liebste war.
Verstört mach ich mich auf, sie zu suchen, meine Bettdecke, und da hängt sie, im Weißdorn, ein paar Gärten weiter. Die alte Frau am Fenster schaut mir zu, wie ich die Decke herunter hole, der Bezug bleibt an den Dornen hängen, reißt ein. “Ja, so war ich auch einmal”, sagt sie, “möchtest du einen Tee?“
Ich möchte keinen, will nur nach Hause. Ich schüttle den Kopf, wende mich zum Gehen, aber jetzt brechen die Wolken, es gießt und hagelt auf mich ein, ich flüchte ins Haus. Vier Stufen hoch, ihre Wohnungstür steht offen, vom Flur geht’s gleich in ein Wohnzimmer, in der Mitte ein Holzofen. “Setz dich”, sagt die Frau, Sepia stand auf dem Klingelschild. Sie deutet auf einen Sessel, der zweite ist schon besetzt, mit einem alten Mann, “Mein Bruder”, stellt sie ihn vor.
Er sagt: “Guten Tag”, ich nicke ihm zu, versuche freundlich zu sein, starre ihn aber böse an. Sie sind so vertraut miteinander, die beiden Alten, und mir steht die Vergangenheit bis zur Kehle, ich muss hier wieder raus, und werde von Frau Sepia in den Sessel gedrückt. “Ich hol den Tee”, sagt sie, durchs offene Fenster springen nasse Katzen, fauchen, streiten sich um das Kissen am Ofen. Ich presse meine Bettdecke eng an mich.
“Was ist mit dir”, fragt Frau Sepia, als sie ein Tablett mit Tee und Keksen auf das kleine Tischchen neben mich stellt. Ich weine. Der Bruder zieht ein grünkariertes Taschentuch aus seiner Brusttasche und reicht es mir. Die Frau setzt sich auf das Sofa und schaut zum Fenster hinaus, der Sturm trägt herein, was er so findet, Blumenköpfe, Staub, scheppernde Plastiklöffel, einen großen schwarzen Vogel, zerzaust, der Schnabel blutrot.
“Nichts für dich dabei?”, fragt sie. Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht, strecke die Hand aus, der Vogel hüpft auf meinen Unterarm, legt den Kopf schief, um mich zu beäugen. “Mein Bruder hat sich gegen mich entschieden”, sage ich. “Vor zwanzig Jahren.”