“Sie haben ein Paket bekommen”, ruft es von unten. Ich beuge mich über den Geländerrand im vierten Stock: “Kommen Sie ruhig hoch!” “Ich kann nicht”, ächzt der Postbote. “Schon gar nicht ruhig.” Jetzt bin ich auch beunruhigt. Ich kann mich nicht erinnern, etwas bestellt zu haben. Doch, fällt mir beim Hinunterlaufen ein, ein Stativ. Es sollte allerdings klappbar sein. Das Paket überragt den Postboten, der auch nicht gerade klein ist, und jetzt einen hochroten Kopf hat. “Alleine schaffe ich das nicht”, behauptet er, und tatsächlich ist dieses Monsterpaket so schwer, dass ich es nicht einmal anheben kann. Ich hole den Nachbarn aus dem ersten Stock zu Hilfe, der dreimal die Woche ins Fitnessstudio geht und immer nach Herausforderungen sucht. Er schleppt das Paket eine Treppe hoch, dann bleibt er keuchend stehen und reibt sich seinen Rücken.
Zu dritt schaffen wir es schließlich. “Was haben Sie denn da bestellt?”, will der Nachbar wissen. Das frage ich mich auch. Habe ich schon wieder etwas Falsches angeklickt? Vielleicht ist das Stativ aus Gußeisen. Oder da stand nicht “Stativ”, sondern “Statue”. Nie wieder übermüdet Internet-Bestellungen machen, nehme ich mir vor, als der Postbote und der Nachbar die Treppen hinunter wanken.
Ich zwänge mich an dem Paket vorbei, das jetzt einen beträchtlichen Teil des Eingangsbereiches einnimmt, und beschließe, mir erstmal einen Cappuccino zu machen. Da weiß ich noch nicht, dass dies das letzte friedliche Kaffeetrinken in meiner Küche sein wird. Ich löffle den Sojamilchschaum mit einem Stück dunkler Schokolade, schaue aus dem Fenster auf den ersten grünen Blätterflaum an den Bäumen, und sinne darüber nach, warum ausgerechnet vor meinem Balkon eine Hainbuche steht, von der sich das Wort “hanebüchen” ableitet, was soviel wie absurd und abwegig bedeutet. Und dann höre ich Geräusche im Flur.
Außerplanmäßig
Ich bin auf dem Nachhauseweg. Mein Zug hat Verspätung. Während ich auf dem Bahnsteig stehe und mir die Hände reibe, die sich trotz Handschuhen steif und kalt anfühlen, wird der außerplanmäßige Halt eines Zuges angesagt. Kurze Zeit später fährt er ein. Ein Frecciarossa, ein roter Pfeil, aus Italien. Seit wann fahren die hier lang? Amsterdam — Monaco — Roma, steht an der Flanke des Zuges. Rom! Ich werde unruhig beim Anblick dieser roten Waggons. Die Frecce fahren nur innerhalb Italiens. Irgendwas stimmt da nicht. Und dann sehe ich es: da sitze ja ich, in diesem Zug, natürlich in ein Buch vertieft.
Nein, das kann doch nicht … mit einem Sprung bin ich am Zug, klopfe ans Fenster. Ich da drin löse den Blick vom Buch, hebe den Kopf, und dann schaut sie, die ich ist, raus und unsere Blicke begegnen sich. Der Zug rollt an, ich habe nicht die Kraft, nebenher zu laufen, einen Halt zu erzwingen, wenigstens zu schreien. Erschüttert bleibe ich zurück, ich hier auf dem Bahnsteig, während mein anderes Ich unterwegs ist, nach Rom.
Denn da gibt es keine Zweifel, sie, die ich ist, wird nicht in München aussteigen, sie fährt nach Rom, sie lebt dort. So wie ich es beinahe getan hätte, vor ach so vielen Jahren. Ich habe davon gehört, dass es Paralleluniversen gibt, in denen wir, wer auch immer das dann ist, die Leben leben, die auch möglich gewesen wären. Aber ich dachte immer, dass diese Universen eben parallel zu unserem verweilen würden, ohne Schnittpunkte.
Ist heute so eine Parallelwelt auf die schiefe Bahn geraten, oder hat dieses andere Ich samt rotem Zug die Universen gewechselt? Ich löse mich aus meiner Erstarrung und strebe einen Schaffner an. Er ist von einer Traube von Menschen umringt, die er mit den Worten “Achten Sie auf die Zugdurchsagen!” zurück lässt. Ich hefte mich an seine Fersen: “Sagen Sie bitte, der Zug, der eben hier gehalten hat, wie lange braucht der nach Rom?” Er wimmelt mich ab. “Der war außerplanmäßig hier. Über den kann ich keine Auskunft geben.“
20 Stunden mindestens, denke ich. Ich könnte hinfliegen. Auf dem Bahnhof warten, bis ich aussteige. Und mich verfolgen, mir zugucken, wie ich in Rom lebe. Leben würde, wenn ich damals zu Lorenza gezogen wäre. Aber warum? Außerdem muss ich morgen arbeiten. Ich bin doch zufrieden mit meinem Leben. Und der Entscheidung, die ich damals getroffen habe.
Wer weiß, wer das da im Zug war. Sie sah mir ähnlich, mehr nicht. Paralleluniversen, falls es sie denn geben sollte, haben wahrscheinlich anderes zu tun als ausgerechnet meinen Weg zu kreuzen. Diese Ausflüchte helfen mir nicht. Ich weiß genau, dass ich im Zug war. Aber was mache ich, wenn ich in Rom feststelle, dass das dort das Leben ist, das ich leben möchte, und hier nur eine weniger geglückte Parallele? Kann ich denn in ein anderes Leben umziehen, will ich das überhaupt? Und was passiert dann mit meinem anderen Ich?
Ratlos bleibe ich auf dem Bahnsteig stehen und warte auf Hinweise, aber es kommen keine, es kommt nur mein Zug und ich steige ein. Statt zu lesen suche ich in meinem Handy nach dem Frecciarossa. Im deutschen Netz finde ich ihn nicht, ich probiere es mit der italienischen Gesellschaft, Trenitalia. Keiner der Frecce fährt nach Amsterdam.
Und keine Schaffnerin kommt, die ich fragen könnte, nur eine Person mit Servierwagen, bei der ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten einen Kaffee kaufe. Als ich ihr das Geld gebe, frage ich sie leise: “Würden Sie nach Rom ziehen?” Sie lacht. “Da war ich erst gestern! Ich zieh ja dauernd rum.” Und dann zieht sie ihren Wagen weiter und ich bleib sitzen mit einem Becher voll hellbraunem Wasser, der mir die Hände wärmt und den ich dann, als ich aussteige, in einen Mülleimer versenke.
Ich könnte mich für morgen krank melden, sinniere ich auf dem Nachhauseweg. Heute Abend um halb zehn geht noch ein Flug nach Rom. Was für eine Geldverschwendung und Umweltverschmutzung! Außerdem hat sich die Stadt sicher verändert, ist voller und lauter geworden, wie so viele Städte, die jetzt billig angeflogen werden können. Ich muss wahrscheinlich nur einen Tag in Rom verbringen, um zu wissen, dass ich dort nicht wohnen will. Und wenn nicht? Was ist, wenn ich tatsächlich mir begegne in Rom, und wenn ich dort auch ein gutes Leben habe?
Wieso habe ich auf einmal diese Probleme und solche Fragen? Vor einer Stunde habe ich mich nur über die Zugverspätung geärgert. Jetzt wünsche ich mir diesen kleinen Ärger zurück anstatt der großen Verunsicherung, die mich befallen hat. Und Lorenza? Wenn ich sie dort treffe, in Rom, wenn wir gar ein Paar sind? Lorenza, meine große Liebe, die aber eine andere wollte oder vielleicht nur ihre Freiheit, wer weiß.
Etwas Übermutiges
Einmal kauf ich mir ein Balkon für mich allein, mit blauem Himmel dran und ein paar weißen Wolken. Auf mein Balkon wachsen Tulpen und Krokus. Und dann noch Krähen und Tauben: Wenn ich komm, wedeln sie mit den Flügeln, dass es rauscht und schwirrlt. Das Haus bleibt da, aber wir fliegen davon: mein Balkon, die Vögel, die Blumen und ich. Hoch über die Häuser fliegen wir drüber, tummeln uns in die Wolken hinein. Die unten sind, gucken hoch und neiden uns.
„Julia, du stehst ja immer noch auf dem Balkon! Ist dir nicht kalt?“
„Nein.“
„Komm doch wieder rein, es wird langsam kühl.“
Ein fliegender Balkon ist besser als ein fliegender Teppich, weil er Luft und Lehnen hat: ich kann mich in den Liegestuhl schmiegen oder am Lenkrad stehen. Die Vögel zwitschern und flügeln, die Haare winken dem Wind, wir fliedern durch den Frühling, treiben so schön dahin und alles ist ganz leicht.
„Julia, nicht so weit vorbeugen! Du fliegst mir noch vom Balkon. Komm jetzt rein!“
Sie sagen mir immer vor. Weil ich im Heim wohne. Es sind dauernd welche da, die auf uns aufpassen. Nie hör‘n sie auf, uns zu helfen, damit wir leben können, wie sie es sagen. Sie schützen uns, mal weich, mal hart. Sie bringen uns in Not und bergen uns. Es sind unsere Berge. Was täten wir ohne sie?
Ich geh rein, setz mich in mein Sessel, Puppe auf‘m Schoß. Die hab ich immer dabei. Die Berge sagen: „Julia braucht ihre Puppe. Sie glaubt, es ist ihr Kind.“ Manchmal huscheln sie dann leise miteinander. Ich weiß schon, was sie sagen: dass die Ärzte mein Bauch aufgeschnitten und mir alle meine Babys weggenommen haben.
Die Puppe hat auf dem Rücken ein Loch. Da war früher ein Kasten drin, der hat geredet: „Guten Tag, ich heiße Barbara.“ Den Kasten hab ich raus geschnitten. Die Puppe heißt Nille.
„Nille!“, maunzt Margit, „das ist doch kein Name!“
„Das geht dich ein Scheißdreck an.“
Von mein Sessel aus kann ich alles sehn: die Sofas, den Fernseher, den Esstisch, die Blumen auf der Fensterbank, Primeln. Ich mag es, wenn was blüht.
Jetzt stellt sich Mona in meine Sicht; sie biegt sich vor und zurück, vor und zurück, nimmt Anlauf und kommt dann nicht los.
Margit schlägt mit den Fäusten auf die Wand, rennt raus, schreit im Flur. Das kommt manchmal, weil sie Psychrose hat. Dann sind ihr Dornen in den Augen.
Auf dem Tisch kalkuliert Hannah ihr Geld: Raus aus der Börse, rein in die Börse kullern die Münzen. Und dann alles gut verschüttelt. „Mach nicht so einen Börsenkrach!“, schimpf ich, aber sie hört nicht auf mit dem Geklingel.
Da kommt auch noch Sonja, die folgsame Diebin. Sie hat mir mein Geburtstag gestohlen. Jeder Mensch hat ein Geburtstag. Da wird die Zimmertür geschmückt und der Platz am Tisch. Alle gucken dich feierlich an und dann gibt‘s Geschenke. Jeder hat so ein Tag. Ich hab den 5. Mai. Dann ist Sonja eingezogen und wollte auch den 5. Mai. Hab‘ ich ihr gleich gesagt, dass sie sich das abschminken kann und ein andern Tag nehmen soll. Gibt ja genug von Januar bis Dezember.