Ich gehe nicht gerne Klamotten einkaufen. Aber bei meiner Jacke ist der Reißverschluss kaputt, er lässt sich nicht mehr ganz öffnen. Um die Jacke auszuziehen muss ich sie zu Boden gleiten lassen und dann heraus steigen, worin ich zwar eine gewisse Geschicklichkeit entwickelt habe, aber bei dem Vorstellungsgespräch nächste Woche macht es vielleicht einen ungünstigen Eindruck, wenn ich meine Jacke vom Boden aufhebe. Ich habe schon eine Weile gewartet, ob mir vielleicht jemand eine Jacke schenkt. Es ist aber nicht passiert und jetzt muss ich in ein Geschäft hinein.
“Geh zu “Kaufdoch”, hat Filo gesagt. “Dort gibt es gerade Angebote.” Ich gehe los, als es schon dunkel ist, damit ich nicht so viel von der Fußgängerzone sehe. Ich habe jedoch nicht mit der Lichtreklame gerechnet. Als ich bei Kaufdoch ankomme, fühle ich mich schon verausgabt. Ich raffe drei Jacken an mich und eile zur Umkleidekabine.
Das beste an einem Klamottengeschäft sind die Umkleidekabinen. Ich kann den Vorhang vorziehen und habe einen kleinen Raum zum Erholen. Aber bevor es soweit kommt, werde ich am Schlafittchen gepackt und nach hinten gerissen: “Halt! Hier wohne ich.” Tatsächlich sehe ich im Inneren der Umkleidekabine, die ich gerade betreten wollte, einen Gaskocher mit Wasserkessel darauf und daneben, auf einem Tablett, zwei Tassen. “Entschuldigung, das wusste ich nicht.” “Stimmt, du bist neu hier.” Die Frau mustert mich von oben bis unten. “Willste ne Tasse Tee?”
“Ja, gerne.” Ich lege die Jacken auf einen Auslagentisch und setze mich zu der Frau in die Kabine, auf einen der beiden Hocker. Sie zieht den Vorhang zu und schenkt mir Tee ein. “Milch, Zucker, Kuchen?” “Gerne alles. Danke. Und Sie — wohnen hier?” “Sagste wohl “du” zu mir! Siehste ja, dass ich hier wohn.” “Aber, wie geht das? Das ist doch ein Kaufhaus! Und wo schläfst du?” “Na, in der Betten-Abteilung. Logisch. Hier ist nur mein Empfangszimmer.” “Ach so.” Ich komme mir irgendwie dumm vor. So, als ob ich etwas nicht mitbekommen hätte. “Und — haben die hier gar nichts dagegen?” Sie lacht, trinkt in großen Schlucken. “Ha! Dagegen schon. Müssen sich aber vor mir hüten.” “Bist du gefährlich?”
Tod
Ein sonniger Herbsttag, ich sitze auf einer Bank an der stillgelegten Bahnlinie, zwischen einem knorrigen Holunder und einer Schar Brennesseln, die mich überragen, und schaue in die blaue Luft. Glöckchen klingeln, kommen näher. Sie hängen an einem Rollator, zusammen mit Wimpeln in verschiedenen Farben, Blumenghirlanden und einem leeren roten Einkaufsnetz; im Gitterkorb drei Handtaschen, reingeknautscht. Die Frau, die den Rollator schiebt, trägt einen violetten Strohhut. Als sie näher kommt, sehe ich, dass sie weint. Schnell schaue ich weg, aber sie bleibt vor der Bank stehen, schluchzt. Verlegen ziehe ich eine Packung Taschentücher aus meiner Fahrradtasche, biete ihr eines an. Sie nimmt es, schnaubt hinein und lässt sich neben mich auf die Bank fallen: “Kennst du auch jemanden, der schon tot ist?” Ich zögere. “Ja, mehrere”, sage ich schließlich, und überlege, wie ich aus dieser Situation wieder raus komme.
Die Frau weint weiter, ich mustere sie verstohlen. Auf ihrer Bluse prangen Schmetterlinge, die Hose hat ein Leopardenmuster. Ich stelle fest, dass ich die Klamotten mag, mich aber nicht trauen würde, sie anzuziehen, schon gar nicht in Kombination, obwohl ich Schmetterlinge mag, und Leoparden auch. “Wer ist denn gestorben?”, frage ich.
“Micha.” Die Frau neben mir haut mit der Faust auf die Parkbank: “Warum ist das so? Tod und vorbei. Warum kommt er nicht wieder?” Ich seufze. Jetzt sitze ich hier mit diesen Todesfragen, auf die es keine Antwort gibt. Ich will mich nicht von der Traurigkeit anstecken lassen, aber es ist schon zu spät. So ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Gleich fange ich an zu weinen. Ich will gehen. Aber das kommt mir gemein vor.
Auf einmal sind sie da, stehen vor mir, meine Toten, gestorben durch Krebs, Suizid, Herzinfarkt, Ertrinken. Das Warum? nach jedem Tod. Das Loch in meiner Seele. Der Unsinn des Todes. Das Unvorstellbare, an das man sich letztendlich gewöhnt. Was man vergisst. Jeden Tag vergessen wir unsere Toten. Und plötzlich stehen sie vor mir, an einem sonnigen warmen Tag, herbei gekommen mit einem glöckchenklingelnden Rollator.
“Es war noch nicht fertig.” “Was war noch nicht fertig?” “Er schuldet mir noch einen Schokoriegel, mindestens.” Ich krame in meiner Fahrradtasche, hole den Riegel aus Milchschokolade heraus, den ich seit einiger Zeit immer bei mir trage: “Für dich.” Sie schaut mich an, ihr Mund zieht sich zu einem Lächeln: “Heißt du auch Micha?” “Nein”, ich schüttle abwehrend den Kopf. Als ich ihren enttäuschten Blick sehe, ändere ich meine Meinung: “Du kannst Micha zu mir sagen”, schlage ich vor. “Ja? Triffst du dich auch jeden Freitag mit mir, um drei am Aldi-Flaschenautomaten?” Damit habe ich nicht gerechnet.